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30. Juni 2022 | von Heike Raatz, Christian Fricke, Beate Martin, Regina Kunz

Berufliche Wiedereingliederung bei Arbeitnehmern mit Depressionen

Cochrane Corner ist ein Beitrag von Cochrane Insurance Medicine für Suva Medical. Ein aktualisierter Cochrane Review (45 Studien, 12 109 Personen) über Massnahmen zur Wiedereingliederung von Arbeitnehmern mit Depressionen verfestigt die Bedeutung von Arbeitsplatzmassnahmen als Ergänzung zur medizinischen Behandlung.

Inhalt

      Der Fall

      Herr Dürr, ein 43-jähriger Betriebsleiter eines mittelständigen Unternehmens hatte vor zwölf Monaten einen Motorradunfall, bei dem er sich eine schwere Wirbelkörperfraktur mit passagerer Paraparese zuzog. Postoperativ verblieben trotz umfangreicher Reha-Massnahmen Blasen- und Sexualfunktionsstörungen. Auf diesem Hintergrund und bei Sorgen über seine Zukunft manifestierte sich eine Depression, geprägt von sozialen Ängsten und Schlafstörungen. Unter der eingeleiteten psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung mit antidepressiver Medikation und einem positiven Reha-Verlauf verbessertern sich die depressiven Symptome.

      Körperlich sieht sich Herr Dürr inzwischen in der Lage, seine berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen. Gleichzeitig entwickelt er Ängste, den beruflichen Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. Vor dem Unfall oblag ihm die Führung von 20 Mitarbeiter/-innen, die Überwachung der maschinellen Produktion und das Einkaufsmanagement. Die Tätigkeit stellt hohe Anforderungen an Flexibilität, Entscheidungs- und Selbstbehauptungsfähigkeit, welche beim Versicherten noch eingeschränkt sind. Angesichts der erwarteten Herausforderungen entwickelt er erneut depressive Symptome. Beim Quartalsgespräch bittet der Versicherte den Case Manager um Unterstützung, der ihn an den Konsiliarpsychiater verweist. Dieser erinnert sich an eine kürzliche Fortbildung, bei der man eine Cochrane Meta-Analyse über Massnahmen zur beruflichen Eingliederung bei depressiven Arbeitnehmern diskutiert hatte (Nieuwenhuijsen K et al. CDSR 2020). Neun Studien mit 1 292 Arbeitnehmern hatten gezeigt, dass Arbeitnehmer mit Depressionen früher zur Arbeit zurückkehrten, wenn sie neben der psychiatrischen Behandlung zusätzlich spezifische Eingliederungsmassnahmen am Arbeitsplatz erhielten (Tabelle). Hochgerechnet auf ein Jahr kehrten Arbeitnehmer, die kombinierte Massnahmen erhalten haben, 25 Tage früher an den Arbeitsplatz zurück. Auch die depressiven Symptome verschwanden schneller (acht Studien mit 1 025 Arbeitnehmern) und die Arbeitnehmer fühlten sich an ihrem Arbeitsplatz besser belastbar (fünf Studien, 926 Arbeitnehmer). Der Konsiliarpsychiater findet die Ergebnisse der Meta-Analyse für eine zusätzliche arbeitsplatzbezogene Massnahme ausreichend überzeugend, um die Kostengutsprache zu befürworten. Die Invalidenversicherung leitet diese Massnahme in die Wege.

      Tabelle
      Vergleich Massnahmen am Arbeitsplatz plus medizinische Massnahme versus Übliche Versorgung (Beobachtungsdauer in den Studien zwischen zwei Monaten und einem Jahr)

       

      Zielgrösse 

      Anzahl Studien

      Anzahl Teilnehmer

      Statistische
      Methode

      Effektgrösse
      [95 % CI]

      Bewertung: 
      Robustheit der Evidenz*

      1. Anzahl
      Krankheitstage

               9

      n = 1 292 

      SMD+

      -0,25 
      [-0,38, -0,12]

      mittelgradige Robustheit

      2. Beschäfti-
      gungsstatus
      arbeitsunfähig

               2

      n = 1 025

      Relatives Risiko 

      1,08 
      [0,64, 1,83]

      hoher Grad 
      an Robustheit

      3. Depressive
      Symptome

               8

      n = 1 091

      SMD+

      -0,25 
      [-0,49, -0,01]

      niedriger Grad 
      an Robustheit

      4. Belastbar-
      keit am
      Arbeitsplatz 

               5

      n = 926

      SMD+

      -0,19 
      [-0,43, 0,06]

      mittelgradige Robustheit

       

      Legende
      *Bewertung «Robustheit der Evidenz» siehe unten Anhang
      SMD+ = Standardisierte mittlere Differenz. Wir berichten den Unterschied zwischen der kombinierten Massnahme «Anpassung am Arbeitsplatz plus medizinische Massnahme» und «der üblichen Versorgung» als standardisierte mittlere Differenz oder abgekürzt SMD. Die SMD ermöglicht es, die Ergebnisse mehrerer Studien zu einer Meta-Analyse zusammenzufassen. Eine SMD von -0,2 oder 0,2 beschreibt einen kleinen Effekt, eine SMD von -0,5 oder 0,5 beschreibt einen mittelgrossen Effekt und eine SMD von -0,8 oder 0,8 beschreibt einen grossen Effekt.

      Die Evidenz

      Die Cochrane Meta-Analyse «Massnahmen zur beruflichen Wiedereingliederung von Menschen mit depressiven Störungen»

      Ziel der Meta-Analyse

      Dieser Review überprüft Massnahmen, welche beitragen sollen, bei Arbeitnehmern mit depressiven Störungen Phasen von Arbeitsunfähigkeit zu verkürzen. Häufig werden Arbeitnehmer mit Depressionen für einen kurz-, mittel- und oft auch langfristigen Zeitraum arbeitsunfähig. Ihre berufliche Wiedereingliederung ist für die Arbeitnehmer selbst, für den Arbeitgeber wie auch die Gesellschaft eine wichtige Aufgabe. Hierfür gibt es diverse Massnahmen. Der Review untersucht Eingliederungsmassnahmen am Arbeitsplatz zusammen mit oder ohne medizinische Massnahmen.

      Massnahmen am Arbeitsplatz zielen vor allem darauf ab, die Auswirkungen einer Depression auf die Arbeitsfähigkeit abzumildern. Die meisten Studien kombinierten mehrere Einzelmassnahmen, wie z.B. Kontaktaufnahme mit Vorgesetzten, Eingliederungsplan mit gradueller Arbeitsaufnahme, Anpassung der Arbeitsanforderungen oder der zeitlichen Verfügbarkeit oder Erlernen von Coping Strategien zum Umgang mit Depressivität am Arbeitsplatz. Medizinische Massnahmen wie leitliniengerechte Pharmakotherapie, Psychotherapie und Physiotherapie werden eingesetzt, um depressive Symptome zu reduzieren und dadurch die Arbeitsfähigkeit zu verbessern. Diese Massnahmen wurden verglichen mit «der üblichen Versorgung», um folgende Fragen zu beantworten:

      • Wie viele Krankheitstage hatten Arbeitnehmer mit Depressionen?
      • Wie viele Arbeitnehmer mit Depressionen waren (am Ende der Studie) krank geschrieben?
      • Wie ausgeprägt war die Depressivität bei den Betroffenen?
      • Wie verändert sich die Belastbarkeit der betroffenen Arbeitnehmer am Arbeitsplatz?

      Wie lauten die Ergebnisse der Meta-Analyse?

      Wir fanden 45 Studien mit 12 109 Arbeitnehmern mit Depressionen. Die Studien stammen aus Europa (n=34), den USA (n=8), Australien (n=2) und Kanada (n=1). Wir präsentieren die wichtigsten Ergebnisse für weitere Vergleiche und einer Nachbeobachtungsdauer bis zu einem Jahr:

      Veränderungen am Arbeitsplatz in Kombination mit medizinischen Massnahmen

      • verringern mit grosser Wahrscheinlichkeit die Zahl der Krankheitstage, im Schnitt um 25 Tage, bezogen auf ein Jahr (neun Studien; 1 292 Teilnehmer) 🙂
      • haben keine Auswirkung auf die Anzahl an Arbeitnehmern, die am Ende der Studie krank geschrieben waren (zwei Studien; 1 025 Teilnehmer) 🙁
      • verringern die Symptome von Depressionen (acht Studien; 1 091 Teilnehmer) 🙂
      • können bei den Betroffenen die Belastbarkeit am Arbeitsplatz verbessern (fünf Studien; 926 Teilnehmer) 🙂  

      Alleinige Anpassungen am Arbeitsplatz

      • können die Zahl der Krankentage erhöhen (zwei Studien, 130 Teilnehmer)😢
      • haben keine Auswirkung auf die Anzahl an Arbeitnehmern, die am Ende der Studie krank geschrieben waren (eine Studie; 226 Teilnehmer) 😐
      • haben wahrscheinlich keine Wirkungen auf die Depressivität der Betroffenen (4 Studien; 390 Teilnehmer) 😐
      • führen vermutlich nicht dazu, dass sich bei den Betroffenen die Belastbarkeit am Arbeitsplatz verbessert (eine Studie; 48 Teilnehmer) 😐

      Verbesserte Gesundheitsversorgung ohne Arbeitsplatzmassnahme (z.B. Einbindung in ein Qualitätssicherungsprogramm, leitliniengerechte Versorgung, regelmässiger Telefonkontakt mit Therapeuten)

      • reduziert wahrscheinlich die Zahl der Krankentage um durchschnittlich 20 Tage bezogen auf ein Jahr (beobachtet in zwei gut durchgeführten Studien mit 692 Teilnehmern, allerdings nicht in allen sieben Studien mit 1 912 Teilnehmern) 😐
      • reduziert wahrscheinlich die depressiven Symptome (sieben Studien; 1 808 Teilnehmer) 🙂
      • kann die Belastbarkeit am Arbeitsplatz verringern (eine Studie; 604 Teilnehmer) 🙁

      Psychotherapie ohne Arbeitsplatzmassnahme

      • können die Zahl der Krankentage um durchschnittlich 15 Tage (bezogen auf ein Jahr) verringern (neun Studien; 1 649 Teilnehmer) 🙂
      • reduzieren möglicherweise die Symptome von Depressionen (acht Studien; 1 255 Teilnehmer) 😐
      • Ob sich Psychotherapien ohne Arbeitsplatzmassnahmen auf die Belastbarkeit der Betroffenen am Arbeitsplatz auswirken, bleibt unklar (eine Studie; 58 Teilnehmer) 😐

       Legende
      🙂   Verbesserung durch die untersuchte Massnahme im Vergleich zur Kontrollmassnahme 
      😐  kein sicherer Unterschied zwischen der untersuchten Massnahme und der Kontrollmassnahme
      🙁  kein Unterschied zwischen der untersuchten Massnahme und der Kontrollmassnahme
      😢  Verschlechterung durch die untersuchte Massnahme im Vergleich zur Kontrollmassnahme  

      Terminologie «Robustheit der Evidenz» (Lietz et al. 2020)
      Die Bewertung «Robustheit der Evidenz» wurde durch die Autorengruppe durchgeführt.

       

      Bewertung “Robustheit der Evidenz”

      Definition

      ⊗⊗⊗⊗ Hoher Grad an Robustheit

      Die Autorengruppe ist sich sehr sicher, dass der wahre Effekt nahe bei dem beobachteten Effekt liegt.

      ⊗⊗⊗O Mittelgradige Robustheit

      Die Autorengruppe hat mäßig viel Vertrauen in den beobachteten Effekt: Der wahre Effekt ist wahrscheinlich nahe beim beobachteten Effekt, aber es besteht die Möglichkeit, dass er substantiell verschieden ist.

      ⊗⊗OO Niedriger Grad an Robustheit

      Das Vertrauen der Autorengruppe in den beobachteten Effekt ist begrenzt: Der wahre Effekt kann durchaus substantiell vom beobachteten Effekt unterscheiden.

      ⊗OOO Sehr niedriger Grad an Robustheit

      Die Autorengruppe hat nur sehr wenig Vertrauen in den beobachteten Effekt: Der wahre Effekt unterscheidet sich wahrscheinlich substantiell vom beobachteten Effekt. 

      Korrespondenzadresse

      Heike Raatz
      Cochrane Coordinatorin
      Cochrane Insurance Medicine
      Departement Klinische Forschung
      Universitätsspital Basel

      Literaturverzeichnis

      1. Nieuwenhuijsen K, Verbeek JH, Neumeyer-Gromen A, Verhoeven AC, Bültmann U, Faber B. Interventions to improve return to work in depressed people. Cochrane Database of Systematic Reviews 2020, Issue 10. Art. No.: CD006237. DOI: 10.1002/14651858.CD006237.pub4.
      2. Lietz M, Angelescu K, Markes M, Molnar S, Runkel B, Schell L, et al. GRADE: Von der Evidenz zur Empfehlung oder Entscheidung – Entscheidungen zur Kostenerstattung. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2020;150-152:134-41.

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