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30. September 2024 | von Regina Kunz

Bessere Gutachter-Übereinstimmung dank funktionsorientierter Begutachtung

Talking about Work works. Eine Inhaltsanalyse von 30 Gutachten zeigt: Gutachter stimmen bei Arbeits(un-)fähigkeit besser überein, wenn im Begutachtungsgespräch viel über arbeitsbezogene Funktionseinschränkungen und arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden gesprochen wurde.

Inhalt

      Regina Kunz, EbIM, Klinische Epidemiologie, Universität Basel  

      Sarah Kedzia
      Raphael Dettwiler
      Nicole Vogel
      Wout de Boer
      David Y. von Allmen 

      Evidence-Based Insurance Medicine (EbIM)
      Klinische Epidemiologie
      Universität Basel
      Totengässlein 3
      4051 Basel

      Das moderne Denken über die Beurteilung der Arbeits(un-)fähigkeit in der Versicherungsmedizin hat sich in den letzten Jahren in Richtung funktionsorientierter Begutachtung (1, 2) weiterentwickelt. Funktionsorientierte Begutachtung bedeutet eine Verschiebung vom biomedizinischen Ansatz, der Arbeitsunfähigkeit als Merkmal einer Person mit eingeschränkter Gesundheit betrachtet, hin zum biopsychosozialen Ansatz der «International Classification of Functioning» (ICF). Dieser Ansatz betrachtet Arbeits- unfähigkeit als Wechselwirkung zwischen eingeschränkter Gesundheit, Arbeits- anforderungen und anderen Faktoren. Ein internationaler Vergleich (3) beschreibt drei Modelle der direkten Beurteilung von Arbeitsfähigkeit (AF), die mit unterschiedlicher Konsequenz in die nationale Praxis umgesetzt wurden:  

      1. «Demonstrierte Beurteilungen» erfassen die Erfahrungen der Antragsteller auf dem Arbeitsmarkt.  
      2. «Strukturierte Beurteilungen» gleichen die funktionellen Möglichkeiten der Antragsteller mit den Anforderungen am Arbeitsplatz ab.  
      3. «Beurteilungen durch Gutachter» verwenden die Einschätzungen qualifizierter Fachleute.  

      Alle drei Modelle setzen in der Regel spezielle Vorgehensweisen ein, um die arbeitsbezogenen Fähigkeiten der Antragsteller und ihre Aktivitätseinschränkungen in einem gegebenen Arbeitsumfeld zu bewerten.  

      Die Schweiz, die einen solchen Wandel mit vorantreibt, schlägt die ICF als Bezugsrahmen vor, um die Funktions- und Arbeits(un-)fähigkeit im Rahmen der Invaliditätsbeurteilung zu ermitteln und zu kommunizieren (4, 5). Die Umsetzung in die Praxis steht jedoch noch am Anfang (2, 6). Unser Konzept der funktionsorientierten Begutachtung ergänzt die derzeitige psychiatrische Beurteilungspraxis um Komponenten aus allen drei Modellen (2, 7, 8): Zu Beginn der Begutachtung erfasst ein halbstrukturiertes funktionsorientiertes Interview die Selbsteinschätzung der Antragsteller zu ihren arbeitsbezogenen Einschränkungen und Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Diese Selbsteinschätzung wird im weiteren Begutachtungsgespräch überprüft. Mit Hilfe des «Instrument for Functional Assessment in Psychiatry» (IFAP) dokumentieren die Gutachterinnen und Gutachter am Ende der Begutachtung ihre Einschätzung zu den arbeitsrelevanten Einschränkungen und Fähigkeiten, bezogen auf die Anforderungen am letzten Arbeitsplatz sowie einem alternativen, dem Leiden angepassten Arbeitsplatz und leiten letztendlich daraus die verbliebene Arbeitsfähigkeit ab.  

      Strukturierte Dokumentation von Einschränkungen und Fähigkeiten 

      Das funktionsorientierte Interview ist eine Technik mit semistrukturiertem Ablauf, für das ein spezifisches Training entwickelt wurde. Das Gespräch umfasst fünf Schritte mit insgesamt 19 Kernthemen:  

      1. Orientierung der Antragsteller über die Begutachtung  
      2. Fragen zur letzten Arbeitsstelle und zu früheren Tätigkeiten 
      3. Fragen zur Selbstwahrnehmung der Arbeitseinschränkungen  
      4. Fragen zu den arbeitsbezogenen Gesundheitsbeschwerden 
      5. Zusammenfassung und Spiegelung durch den Gutachter oder die (im weiteren Text wird nur noch die weibliche Form verwendet, es sind aber beide Geschlechter gemeint) wie sie die Selbsteinschätzung des Antragstellers verstanden haben (Tabelle 1) 

       

      Tabelle 1: Zweck und Inhalt der funktionsorienierten Begutachtung: die fünf Schrite und das Kategoriensystem mit 19 Kernthemen

      Tabelle 1 Suva Medical Artikel

       

      In diesen fünf Schritten sollen sowohl die Gutachterinnen als auch die Antragsteller und (im weiteren Text wird nur noch die männliche Form verwendet, es sind aber beide Geschlechter gemeint) die neunzehn Kernthemen ansprechen (insgesamt 38 Themen). Diese Gesprächsphase zur Selbsteinschätzung findet zu Beginn der Begutachtung statt und soll im weiteren Verlauf der Psychiaterin als Referenz dienen, um im Verlauf der Begutachtung die medizinischen und sozialen Befunde und Erklärungen zu validieren. Nach dem funktionsorientierten Gespräch setzt die Psychiaterin die Begutachtung gemäss der persönlichen Routine fort.  

      Die RELY-Studien (9) untersuchten unter anderem die Übereinstimmung von psychiatrischen Gutachterinnen, wenn sie nach einem Training in funktionsorientierter Begutachtung (10) die Arbeitsfähigkeit der Antragssteller beurteilten. Sie rekrutierten Personen mit psychischen Erkrankungen, die einen Antrag auf IV-Leistungen gestellt hatten. Diese durchliefen bei geschulten Psychiaterinnen eine funktionsorientierte Begutachtung zur Arbeits-(un-)fähigkeit, welche auf Video aufgezeichnet wurden. Drei ebenfalls geschulte Psychiaterinnen pro Antragssteller betrachteten diese Videos und bestimmten unabhängig voneinander die Arbeits-(un-)fähigkeit der Antragssteller. Somit gab es vier Beurteilungen. RELY-1 zeigte, dass diese vier Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit nur eine geringe Übereinstimmung aufwiesen, trotz Schulung in funktionsorientierter Begutachtung.  

      Um besser zu verstehen, weshalb die Gutachterinnen in ihren Einschätzungen so wenig übereinstimmten, haben wir den Inhalt der RELY-Begutachtungsgespräche auf folgende Fragen analysiert: Inwieweit haben die Gutachterinnen das Konzept des funktions- orientierten Gesprächs wirklich umgesetzt und wie intensiv haben sich Psychiaterinnen und die Antragssteller mit den Kernthemen beschäftigt, die eine Aussage zur Funktionsfähigkeit machen sollten? Ausserdem haben wir verglichen, wie sich eine intensive beziehungsweise eine flüchtige Beschäftigung mit funktionellen Themen auswirkt und ob die vier Gutachterinnen bei demselben Antragssteller die Arbeitsfähigkeit ähnlich oder eben diskrepant einschätzen. 

      Methoden

      Studiendesign und Teilnehmer

      Für diese Querschnittsstudie verwendeten wir die Daten aus der RELY-1-Studie, in der Psychiaterinnen von MEDAS-Begutachtungsstellen solche Begutachtungen durchgeführt hatten. An der Studie konnten Arbeitnehmende mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit teilnehmen, die Leistungen der Invalidenversicherung beantragt hatten, deutsch sprachen und eine polydisziplinäre Begutachtung mit psychiatrischer Beurteilung durchlaufen sollten.  

      Kodierungsverfahren

      Alle Begutachtungsgespräche waren auf Video aufgezeichnet. Für die Inhaltsanalyse wurde die erste Stunde der Begutachtung nach etablierten Regeln als Textdokument erstellt (11) und dieses in kleine Kodiereinheiten (= kleinste Texteinheit, die eigenständig noch Sinn ergibt) heruntergebrochen. Jede Kodiereinheit (auch Kodierung genannt) wurde einem von 19 Kernthemen («funktionelle Kodiereinheit») oder einem von 15 medizinischen/allgemeinen Themen («medizinische/allgemeine Kodiereinheit») zugeordnet [z. B. Schritt 3: Selbst erlebte Arbeitseinschränkungen; Kernthema 10: Frühere Aktivitäten; Kodiereinheit: die Arbeit auf dem Kran hat mich immer mehr gestresst]. Anhand von drei so erstellten Begutachtungs- texten überprüften wir die Kategoriensysteme und Kodierregeln. Wir kodierten unabhängig in Paaren und verglichen die Ergebnisse, um sicher zu sein, dass wir die Regeln in gleicher Weise anwendeten. Stimmten die Kodierergebnisse nicht überein, diskutierten wir in einer Konsensgruppe aus einem erfahrenen Forscher und zwei Kodierern, bis wir uns einigten. 

      Datenanalyse

      Für die Analyse interessierte uns, wie oft die Psychiaterin und der Antragssteller über die Kernthemen sprachen. Unser Endpunkt «Gespräch von Psychiater und Antragssteller über ein Kernthema» war dann erfüllt, wenn die Kodiererinnen einem Kernthema mindestens eine funktionelle Kodiereinheit zuordnen konnten. Wir zählten die Anzahl Kernthemen mit mindestens einer funktionellen Kodiereinheit, identifizierten Kernthemen, die selten oder gar nicht angesprochen wurden und ermittelten die Intensität des Gesprächs über Kernthemen, indem wir für die Psychiaterin und den Antragsteller jeweils die Anzahl der funktionellen Kodiereinheiten pro Kernthema berechneten und den mittleren Wert als Median in % berichteten (Tabelle 2). Mittels einfacher linearer Regression prüften wir, inwieweit die Anzahl an angesprochenen Kernthemen (unabhängige Variable) eine Aussage macht über die Gesprächstiefe bezogen auf Arbeit, gemessen an der Anzahl Kodiereinheiten pro Kernthema (abhängige Variable). Wir interpretierten den gefundenen Zusammenhang als klein, mittel oder gross. 

      Reproduzierbarkeit der gutachterlichen Einschätzung der Arbeitsfähigkeit

      Wir wollten wissen, inwieweit die gutachterlichen Beurteilungen reproduzierbar waren, wenn je vier Gutachterinnen die Arbeitsfähigkeit desselben Antragsstellers einschätzen. Dazu berechneten wir für den Endpunkt «Arbeitsfähigkeit bezogen auf alternative Arbeit» (Verweistätigkeit) mit einem linearen Mixed-Effects-Modell die Übereinstimmung (Inter-Rater-Agreement) unter den vier Gutachterinnen.  

      Ergebnisse

      Psychiaterinnen und Antragssteller

      Zwölf psychiatrische Gutachter (83 % waren männlich) führten 30 Begutachtungen zur Arbeitsfähigkeit durch. Ihr Alter lag zwischen 41 und 60 Jahren (63  %) oder älter (32  %), nur wenige waren jünger (5 %). Ihre Berufserfahrung in der Begutachtung von Arbeitsfähigkeit lag im Schnitt bei 13,8 Jahren (Mittelwert, SD = 9,2). Das Alter der Antragsteller lag bei 47,2 Jahren (Mittelwert, SD = 8,6), 57 % waren männlich. Die häufigsten Diagnosen waren F3 (affektive) Störungen (26 %), gefolgt von F4 (neurotischen, stressbezogenen und somatoformen) Störungen (19 %).  

      Die Inhaltsanalyse

      Die 30 Begutachtungsgespräche in Schriftform enthielten 40 010 Kodiereinheiten, von denen 31 % funktionellen Kernthemen und 69 % medizinischen/allgemeinen Themen zugeordnet wurden (Tabelle 2). Dabei wurden nur 23 der 38 Kernthemen (61 %) von den Gutachterinnen beziehungsweise den Antragstellern angesprochen. Bezogen auf die einzelne Begutachtung wurden im Schnitt 26 % der Kodierungen für funktionelle Kernthemen und 77 % für medizinische/allgemeine Themen verwendet.

      Ergebnisse der funktionellen Begutachtung (Tabelle 2)

      Schritt 1 - Orientierung: Die Psychiaterinnen gaben eine kurze Einführung zu den RELY-Studien (Ø 3,5 Kodiereinheiten), den allgemeinen Regeln (Ø 4,0 Kodiereinheiten) und dem Ablauf der Begutachtung (Ø 9,5 Kodiereinheiten). 

      Schritt 2 - Letzte Arbeitsstelle und frühere Tätigkeiten: Untersuchungen zur Arbeitsunfähigkeit benötigen Hintergrundinformationen über frühere Arbeitsplätze und Angaben zu spezifischen Tätigkeiten. Die Psychiaterinnen führten eine ausgewogene Befragung durch, die fast alle Themen umfasste: Berufsbezeichnung, Angaben zum Arbeitgeber, Dauer der Beschäftigung, Tätigkeiten und Einstellung gegenüber diesen Tätigkeiten. Die durchschnittliche Anzahl lag bei den Psychiaterinnen zwischen 0 und 6,5 Kodiereinheiten pro Thema und bei den Antragsstellern zwischen 2,5 und 18,5 Kodiereinheiten. 

      Schritt 3 und 4 - Selbst erlebte Arbeitseinschränkungen und arbeitsbedingte Gesundheitsbeschwerden: Der Austausch zu den selbst erlebten Arbeitseinschränkungen und arbeitsbezogenen Gesundheitsbeschwerden sind das Kernstück der funktions- orientierten Begutachtung. Hier sollen die Psychiaterinnen den Ursachen für die Arbeitsunfähigkeit der Antragsteller auf den Grund gehen. In unserer Analyse zeigte sich, dass die Arbeitseinschränkungen, wie sie der Antragsteller erlebt hatte, kaum angesprochen wurden. Das galt für die Psychiaterinnen wie auch für den Antragsteller. Auch die Frage, welche Rahmenbedingungen und Ressourcen notwendig wären, um wieder erfolgreich arbeiten zu können, wurde kaum gestellt.  

      Die Frage nach arbeitsbedingten Gesundheitsbeschwerden war aufschlussreicher. Psychiaterinnen fragten nach Beschwerden und Symptomen, im Durchschnitt mit 11,5 Kodiereinheiten und Antragsteller antworteten, im Durchschnitt mit 32 Kodiereinheiten. Verschlimmernde oder abschwächende Faktoren wurden weniger adressiert: Psychiaterinnen fragten nicht, die Antragsteller berichteten darüber, aber nur ein bisschen. Die Fragen zur emotional-kognitiven Bewältigung lag bei den Psychiaterinnen im Durchschnitt bei 1,5 Kodiereinheiten, die Antragsteller antworteten mit durchschnittlich 9,5 Kodiereinheiten. 

      Schritt 5 - Zusammenfassung: Nachdem die Antragsteller beschrieben hatten, wie sie – bedingt durch ihre gesundheitlichen Probleme – ihre Einschränkungen am Arbeitsplatz selbst erlebten und welche Perspektive und Möglichkeiten sie für sich sahen, sollten die Psychiaterinnen (gemäss Konzept der funktionsorientierten Begutachtung) zusammen- fassen, wie sie die Beschreibung der Antragsteller verstanden hatten. Damit sollten sie ein gemeinsames Verständnis herstellen, wie der Antragsteller seine eigene Situation einschätzt. Dieser Schritt wurde de facto nicht umgesetzt. 

      Tabelle 2: Intensität der Beschäftigung mit arbeitsbezogenen funktionellen Themen im Rahmen der Begutachtung 

      Tabelle 2 Suva Medical Artikel

      Die Transkripte von 30 Begutachtungen enthielten 40 010 Kodiereinheiten, von denen 31 % den 19 funktionellen Kernthemen zugeordnet wurden. Die Zahl der funktionellen Kodiereinheiten reflektieren die Intensität der Beschäftigung mit Arbeitsthemen. Schrit 3 «Selbst erlebte Arbeitseinschränkungen» und Schrit 4 «Arbeitsbezogene Gesundheitsbeschwerden» bilden das Kernstück der funktionellen Begutachtung. Begutachtungen mit intensiver oder flüchtiger Beschäftigung mit Arbeitsthemen unterscheiden sich in der Anzahl der adressierten Kernthemen. Im Abschnit «Zusammenfassung» werden die Ergebnisse als Median in % und Interquartilsabstand (IQR) berichtet.

      Begutachtungen mit intensiver oder flüchtiger Beschäftigung mit funktionellen Kernthemen

      Antragsteller waren nach Alter und Geschlecht vergleichbar, unabhängig davon, ob sich ihre Begutachtung intensiv oder flüchtig mit funktionellen Themen beschäftigte.  

      Behandelte und ausgesparte funktionelle Themen

      Begutachtungen mit flüchtiger Beschäftigung adressierten 42 % (16/38) der funktionellen Kernthemen, wobei bei 16 % der funktionellen Kodierungen vertieft gefragt wurde. Begutachtungen, die sich intensiv mit dem Thema Arbeit beschäftigten, adressierten 68  % (26/38) der funktionellen Kernthemen (Anstieg um 60 %, p = 0,021). Dabei wurde bei 36 % der funktionellen Kodierungen vertieft gefragt (Anstieg um 125 %, p < 0,001). Es zeigte sich eine starke Beziehung zwischen der Anzahl an Kernthemen und der Anzahl funktioneller Kodierungen, die diesen Kernthemen zugeordnet waren (R = 0,76, p < 0,001), sowie eine überproportionale Zunahme an funktionellen Kodierungen, die mit zunehmender Anzahl der Kernthemen beobachtet wurde. Beides deutet darauf hin, dass Psychiaterinnen und Antragsteller, die in der funktionellen Begutachtung mehr Kernthemen abdeckten, jedes Thema ausführlicher erkundeten. 

      Begutachtungen mit flüchtiger oder intensiver Beschäftigung mit funktionellen Themen unterschieden sich nicht wesentlich in der Dauer der Orientierung, also der Einführung in das funktionsorientierte Gespräch, und den Erkundigungen nach der letzten Arbeit und früheren Tätigkeiten. Im Gegensatz dazu wurde in Begutachtungen mit flüchtiger Beschäftigung mit funktionellen Kernthemen nicht nach früheren Tätigkeiten (durchschnittliche Anzahl Kodierungseinheiten flüchtig versus intensiv: 0 versus 3 bei Psychiaterinnen; 0 versus 5 bei Antragstellern), alternativen Tätigkeiten (0 versus 4 bei Psychiaterinnen; 0 versus 3 bei Antragstellern) und arbeitsbezogenen Gesundheitsbeschwerden (0 versus 30 bei Psychiaterinnen; 3 versus 54 bei Antragstellern) gefragt (Tabelle 2). Der letzte Schritt der funktionellen Begutachtung, die Zusammenfassung der Psychiaterinnen zu letzter Tätigkeit, Arbeitsaktivitäten, selbst wahrgenommenen Arbeitseinschränkungen und arbeitsbedingten Gesundheitsbeschwerden, wurde in beiden Gruppen komplett ausgespart (durchschnittliche Anzahl Kodierungseinheiten: 0 bei Psychiaterinnen wie auch bei Antragstellern).  

      Auswirkungen der Beschäftigung mit funktionellen Themen auf die Reproduzierbarkeit von Arbeitsfähigkeit und das Ausmass an attestierter Arbeitsfähigkeit

      Gutachterinnen, die sich in ihren Begutachtungen intensiv mit funktionellen Themen beschäftigten, erzielten mit ihren Kolleginnen, die das entsprechende Video gesehen hatten, ein signifikant höheres Inter-Rater-Agreement für die Bewertungen der Arbeitsfähigkeit. Die Begutachtungen mit intensiver Beschäftigung zu den funktionellen Kernthemen bestätigten den Antragstellern ausserdem eine signifikant höhere Arbeitsfähigkeit bezüglich Verweis- tätigkeit - 63,0 % versus 46,1 % - verglichen mit Begutachtungen, die funktionelle Kernthemen nur flüchtig abdeckten (Tabelle 3).  

      Tabelle 3: Auswirkung von Begutachtungen mit flüchtiger bzw. intensiver Beschäftigung mit funktionellen Themen auf die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit
      (AF)

      Tabelle 3 Suva Medical Artikel

      Die Übereinstimmung zwischen den vier Gutachterinnen (Inter-Rater-Agreement, gemessen als Standardmessfehler, SEM) bei der Einschätzung der AF. Ein grosser SEM bedeutet einen grossen ‘Messfehler’ unter den 4 Gutachterinnen, also eine substanzielle Abweichung in den Einschätzungen und damit geringe Übereinstimmung.

      Diskussion

      Das übergeordnete Ziel der Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit ist die angemessene Zuweisung gesellschaftlicher Ressourcen an diejenigen, die ihre Fähigkeit, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, aus gesundheitlichen Gründen verloren haben. Sie soll ausserdem einer unangemessenen Zuweisung an Personen mit verbleibender Arbeitsfähigkeit entgegenstehen. Die funktionsorientierte Begutachtung reflektiert das moderne Verständnis von Arbeitsunfähigkeit. Die strukturierte Erfassung von arbeitsbezogenen Fähigkeiten und Aktivitätseinschränkungen macht darüber hinaus transparent, wie Gutachterinnen zu ihrem Urteil kommen. Sie begegnet damit einer häufig geäusserten Kritik an der Begutachtung. Die Inhaltsanalyse zeigte, dass es in RELY-1 (9) nicht ausreichend gelungen ist, ein semistrukturiertes funktionsorientiertes Gespräch zu funktionellen Kernthemen als einen zentralen Bestandteil der medizinischen Begutachtung zu integrieren. Einschränkend muss man erwähnen, dass in unserer Studie nur die erste Stunde des Begutachtungsgesprächs ausgewertet wurde. Möglicherweise haben einige Gutachterinnen – entgegen der Regeln - in der zweiten Stunde das Thema Arbeit intensiver behandelt. Diese Informationen standen den drei beobachtenden Psychiaterinnen zur Verfügung, als sie in der Hauptstudie (9) die Arbeitsfähigkeit einschätzten. Trotzdem zeigten sich unter diesen Gutachterinnen grössere Unterschiede in der geschätzten Arbeitsfähigkeit. Der positive Zusammenhang zwischen Gesprächen mit intensiverer Beschäftigung mit funktionellen Themen und der besseren Übereinstimmung unter den Gutachterinnen zur verbleibenden Arbeitsfähigkeit der Antragsteller ist vielversprechend. Er muss in unabhängigen Studien (z. B. den RELY-2-Interviews) bestätigt werden. Inzwischen wächst unter Schweizer Gutachterinnen und Gutachtern das Bewusstsein (12), dass spezifische Instrumente eine funktionsorientierte Begutachtung unterstützen (13) oder eigenständig zum Informationsgewinn über arbeitsspezifische Funktionalität beitragen können (14).  

      Der Artikel ist eine Kurzfassung der Studie  

      von Allmen DY, Kedzia S, Dettwiler R, Vogel N, Kunz R, de Boer WEL. Functional Interviewing Was Associated With Improved Agreement Among Expert Psychiatrists in Estimating Claimant Work Capacity: A Secondary Data Analysis of Real-Life Work Disability Evaluations. Front Psychiatry. 2020;11:621. doi.org/10.3389/fpsyt.2020.00621  

      und gehört zu unserer Publikationsserie zur funktionsorientierten Begutachtung  

      Kunz R, von Allmen DY, Marelli R, Hoffmann-Richter U, Jeger J, Mager R, Colomb E, Schaad HJ, Bachmann M, Vogel N, Busse JW, Eichhorn M, Bänziger O, Zumbrunn Th, de Boer WEL, Fischer K. Die RELY-Studien zur Begutachtung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Suva Medical 2019, 3. Ausgabe 

      Interessenskonflikt: Die Autoren erklären, dass keine kommerziellen oder finanziellen Beziehungen existieren, die als potentieller Interessenskonflikt gewertet werden können. 

      Ethik und Datenschutz: Alle Studienverfahren wurden von den kantonalen Ethik- kommissionen in Basel, Bern, Luzern, Zürich sowie den Datenschutzbeauftragten von Basel-Stadt, Schweizerischem Nationalfonds, Bundesamt für Sozialversicherungen, Suva und Invalidenversicherung Zürich geprüft und genehmigt. Alle Teilnehmenden erteilten ihr schriftliches Einverständnis zu den von den Ethikkommissionen genehmigten Verfahren, sowie zur Teilnahme an dieser Studie. 

      Funding: Diese Sekundärforschung stützt sich auf Daten aus den RELY-Studien und wurde aus eigenen Mitteln finanziert. Die RELY-Studien wurden unterstützt durch den Schweizerischen Nationalfonds (Projektnummer 325130_144200), das Bundesamt für Sozialversicherung und die Suva. 

      Korrespondenzadresse

      Prof. Dr. Regina Kunz
      Suva Versicherungsmedizin
      Fluhmattstrasse 1
      6001 Luzern

      Literaturverzeichnis

      1. Escorpizo R, Stucki G. Disability evaluation, social security, and the international classification of functioning, disability and health: the time is now. Journal of occupational and environmental medicine / American College of Occupational and Environmental Medicine. 2013;55(6):644-51. 
      2. Anner J, Schwegler U, Kunz R, Trezzini B, de Boer W. Evaluation of work disability and the international classification of functioning, disability and health: what to expect and what not. BMC public health. 2012;12:470. 
      3. Baumberg Geiger B, Garthwaite K, Warren J, Bambra C. Assessing work disability for social security benefits: international models for the direct assessment of work capacity. Disabil Rehabil. 2018;40(24):2962-70. 
      4. Jeger J. Guidelines for Medical Assessments [Neue Leitlinien zur medizinischen Begutachtung]. Swiss Med J (Schweiz Aerztezeitung SaeZ). 2017;98(17):515-6. 
      5. Ebner G, Colomb E, Mager R, Marelli R, Rota F. Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten [Quality guidelines for insurer reports on psychiatric assessments] Bern: Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie SGPP [Swiss Society of Psychiatry and Psychotherapy]; 2016 [Available from: https://www.psychiatrie.ch/sgpp/fachleute-und-kommissionen/leitlinien
      6. Riemer-Kafka G. Versicherungsmedizinische Gutachten. Ein interdisziplinärer juristisch-medizinischer Leitfaden. [Medical expertises for insurers. An interdisciplinary guidance on medical and legal issues]. 3rd ed. ed. Universität Luzern: Stämpfli Verlag, AG Bern; 2017. 
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