Ausschreibung Forschung Suva: Belastbarkeitsprofil mittels Mini-ICF-APP
Die Festlegung des Belastbarkeitsprofils und der Arbeitsfähigkeit bei Fallabschluss ist ein komplexer Prozess. Besonders bei unfallbedingten psychischen Störungen könnten validierte Instrumente helfen. Eine Ausschreibung von Forschung Suva.
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Inhalt
Autorenschaft
Beate Martin, Suva Versicherungsmedizin
Hannjörg Koch, Suva Versicherungsmedizin
Anwendung des Mini-ICF-APP als Instrumentarium zur Beurteilung des Belastbarkeitsprofils infolge psychischer Störungen
Ausgangslage
Die Suva-Medizin setzt sich ein für wissenschaftliche Projekte auf den Gebieten der Arbeits- und Versicherungsmedizin sowie der Rehabilitationsmedizin. Sie unterstützt die Bearbeitung von Forschungsfragen mit einem Bezug zum schweizerischen Sozialversicherungssystem, speziell zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung (UVG).
Ziele des Auftrags
Das Ziel des ausgeschriebenen Mandats ist die Erarbeitung eines standardisierten Prozesses für die valide und zuverlässige Erstellung eines Belastbarkeitsprofils infolge psychischer Störungen.
Die Festlegung des Belastbarkeitsprofils und der Arbeitsfähigkeit bei Fallabschluss im Rahmen des Bundesgesetzes über die Unfallversicherung (UVG), also dem Moment, wo ein stabiler Gesundheitszustand vorliegt, und die Rente geprüft wird, ist ein komplexer Prozess, speziell wenn relevante psychiatrische Einschränkungen vorliegen. Er setzt sich aus mehreren Schritten zusammen: der Diagnosestellung mit Schweregradzuordnung, den daraus abzuleitenden Fähigkeitsstörungen sowie der Ableitung des Belastbarkeitsprofils und Ermittlung der beruflichen Leistungsfähigkeit, dies unter Beachtung der Konsistenz Validität/Plausibilität. Die entsprechenden Ausführungen im Gutachten müssen dabei laut Rechtsprechung nachvollziehbar sein [1] und darlegen, welche Auswirkungen eine Erkrankung auf die berufliche Leistungsfähigkeit hat [2, 3]. Bei Vorliegen psychiatrischer Einschränkungen orientiert sich der erste Schritt der Diagnosestellung an der ICD-10-Klassifikation. Der zweite Schritt, die Feststellung der Fähigkeitsstörungen, kann anhand der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) der World Health Organization (WHO) mit dem Fremdratinginstrument Mini-ICF-APP durchgeführt werden. Das Mini-ICF-APP gilt mittlerweile gemäss Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten [4] als etabliert (Rangkorrelation nach Schulung 0,9 [5, 6, 7]), auch wenn es von gutachterlicher Seite bislang noch sehr uneinheitlich zur Einschätzung von Fähigkeitsbeeinträchtigungen und Partizipationseinschränkungen eingesetzt wird [8].
Der letzte Schritt, die nachvollziehbare Entwicklung des Belastbarkeitsprofils und der Arbeitsfähigkeit, ist bislang nicht in einem standardisierten Prozess abgebildet, der eine verlässliche Herleitung mit nachweisbarer Übereinstimmung der Gutachter ermöglicht. Die von der Suva unterstützten RELY-Studien zeigten eine geringe Reliabilität (Intraclass correlation coefficient (ICC)) von 0,43 und 0,44 und geringe Übereinstimmung der Gutachter untereinander, gemessen an den Erwartungen von Anwälten, Hausärzten und Gutachtern, Richtern und Versicherern [9, 10].
Auch die aktuelle Publikation «Bessere Gutachter-Übereinstimmung dank funktions-orientierter Begutachtung» [11] als Kurzfassung der bereits 2020 publizierten Studie bestätigt, dass eine strukturierte Erfassung von arbeitsbezogenen Fähigkeiten und Aktivitätseinschränkungen transparent macht, wie Gutachterinnen zu ihrem Urteil kommen.
Zu beantwortende Fragestellung
Die Studie hat sich an den Guidelines for Reporting and Agreement Studies (GRRAS) zu orientieren [13].
- Kann ein standardisierter Prozess entwickelt werden, mit dessen Hilfe die Arbeitsfähigkeit für die angestammte Tätigkeit bzw. das Belastbarkeitsprofil bei psychiatrisch begründeten Einschränkungen transparent aus dem Mini-ICF-APP hergeleitet werden kann (z. B. analog zur EFL)?
- Kann die berufliche Leistungsfähigkeit im psychiatrischen Gutachten durch diesen standardisierten Prozess bzw. die entsprechende Zusatzdiagnostik mit akzeptablem Interrater agreement (siehe auch [10]) aus dem Mini-ICF-APP hergeleitet werden?
- Inwiefern können dabei allenfalls unfallbedingte Einschränkungen von unfallfremden Einschränkungen im Belastbarkeitsprofil getrennt werden?
- Die Studie sollte vorab nach einem entsprechenden Training ein akzeptables Interrater agreement bezüglich Mini-ICF-APP nachweisen. Es ist dabei zu diskutieren, welches Interrater agreement bezüglich Mini-ICF-APP, nach einem geeigneten Training und vor dem Hintergrund der Literatur [10] als akzeptabel anzusehen ist, um bezüglich der beruflichen Leistungsfähigkeit die bestmögliche Übereinstimmung (Interrater agreement) zu erzielen.
Anforderungen an die Antragstellenden
- Erfahrung in der versicherungspsychiatrischen Begutachtung
- Ausweis wissenschaftlicher Qualifikation. Dies erfolgt üblicherweise durch die Promotion. Begründete Ausnahmen sind möglich.
Zeitplan und Kostendach
Frist zur Eingabe von Forschungsprojekten: 31.07.2025
Datum der Bekanntgabe des Entscheids über die (Nicht-)Förderung: 30.11.2025
Maximaler Förderbetrag: CHF 500 000 (inkl. MwSt.)
Anforderungen an die Offerten
Anträge sind unter Berücksichtigung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) für die Förderung von Forschungsprojekten und unter Verwendung der über die Website der Suva verfügbaren Formulare zu stellen und haben folgende Elemente zu umfassen:
- Darlegung und Begründung der gewählten Herangehensweise einschliesslich der Massnahmen zur Einhaltung des Humanforschungsgesetzes und des Datenschutzes
- Eine Förderung setzt ein positives Votum der zuständigen Kantonalen Ethikkommission voraus
- Darstellung des detaillierten Zeitplans und der Kosten mit Auflistung, welche Funktion im Projekt mit welchem Stundenansatz entschädigt wird; der zeitliche Aufwand pro Funktion und für die einzelnen Projektschritte sind separat anzugeben
- Präsentation des Projektteams: relevante Erfahrungen und Kompetenzen im Bereich der versicherungspsychiatrischen Begutachtung
Beurteilungskriterien
Die Anträge werden nach folgenden Kriterien beurteilt (nach Priorität geordnet):
- Zweckmässigkeit und Qualität des Antrags im Hinblick auf die Beantwortung der gestellten Fragen: Problemverständnis, Vollständigkeit, Nachvollziehbarkeit, Angemessenheit und Originalität des Untersuchungskonzepts
- Wirtschaftlichkeit und Preis-Leistungs-Verhältnis
- Zusammensetzung des Forschungsteams: ausgewiesene Erfahrungen mit vergleichbaren Themen und Problemstellungen
- Bei Antragstellenden, die bereits früher den Zuschlag für ein ausgeschriebenes Forschungsprojekt der Suva erhalten oder bei der Suva um Förderung nachgefragt haben, werden die hierbei gewonnenen Erfahrungen mitberücksichtigt
Kontakt
Die Anträge sind spätestens bis zum 31.07.2025 in elektronischer Form einzureichen an: forschung@suva.ch
Kontaktpersonen für Auskünfte und Rückfragen:
Fachlich: | Med. pract. Beate Martin | beate.martin@suva.ch | 041 418 87 73 |
Administrativ: | PD Dr. Hannjörg Koch | hannjoerg.koch@suva.ch | 031 387 32 70 |
Literaturverzeichnis
- BGE 137 V 210 (28.6.2011).
- BGE 136 V 279 (30.8.2020).
- BGE 145 V 215 (11.7.2019).
- Ebner G, Colomb E, Mager R, Marelli R, Rota F, SGPP, et al. Qualitätsleitlinien für versicherungspsychiatrische Gutachten - SGPP. 2016.
- Linden M, Baron S, Muschalla B. Mini-ICF-APP- Mini-ICF-Rating für Aktivitäts- und Partizipationsbeeinträchtigungen bei psychischen Erkrankungen: Hogrefe; 2015.
- Rosburg T, Kunz R, Trezzini B, Schwegler U, Jeger J. The assessment of capacity limitations in psychiatric work disability evaluations by the social functioning scale Mini-ICF-APP. BMC Psychiatry. 2021.
- Canela C, Schleifer R, Dube A, Hengartner MP, Ebner G, Seifritz E, et al. Funktionsbeschreibung in der Begutachtung der Arbeitsfähigkeit - Was ist «evidence-based»? Psychiatrische Praxis 2016;43(2):74-81.
- Christensen S, Martin B. Das Mini-ICF-APP in psychiatrischen Gutachten zu Handen einer kantonalen Stelle der Eidgenössischen Invalidenversicherung in der Schweiz. Praxis Klinische Verhaltensmedizin & Rehabilitation. 2019.
- Kunz R, von Allmen D, Marelli R, Hoffmann-Richter U, Jeger J, Mager R, et al. RELY-Studien zur Begutachtung von Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Suva Medical. 2019
- Schandelmaier S, Leibold A, Fischer K, Mager R, Hoffmann-Richter U, Bachmann MS, et al. Attitudes towards evaluation of psychiatric disability claims: a survey of Swiss stakeholders. Swiss Med Wkly. 2015;145:w14160.
- Kunz R, Kedzia S, Dettwiler R, Vogel N, de Boer W, von Allmen D. Bessere Gutachter-Übereinstimmung dank funktionsorientierter Begutachtung. Suva Medical. 2024.
- von Allmen DY, Kedzia S, Dettwiler R, Vogel N, Kunz R, de Boer WEL. Functional Interviewing Was Associated With Improved Agreement Among Expert Psychiatrists in Estimating Claimant Work Capacity: A Secondary Data Analysis of Real-Life Work Disability Evaluations. Front Psychiatry. 2020;11:621.
- Kottner J, Audige L, Brorson S, Donner A, Gajewski BJ, Hróbjartsson A, et al. Guidelines for Reporting Reliability and Agreement Studies (GRRAS) were proposed. Int J Nurs Stud. 2011;48(6):661-71.