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30. September 2024 | von Dominik Gerber Hostettler

Integritätsschaden unfallbedingter Augenschäden: Revision Tabelle 11

Nach 26 Jahren wurde die IE-Tabelle 11 der Suva für unfallbedingte Augenschäden revidiert, um den medizinischen Fortschritten Rechnung zu tragen. Mathematische Fehler wurden behoben, die Angaben zu Gesichtsfeldeinschränkung und Diplopie in einem Dokument integriert und die Lesbarkeit vereinfacht.

Inhalt

      Ausgangslage

      Mit dem Bundesgesetz über die Unfallversicherung 1984 wurde die Zahlung einer Integritätsentschädigung für bleibende und erhebliche Körperschäden eingeführt. In der Ausführungsverordnung zum Bundesgesetz hat der Bundesrat die Werte für bestimmte Verletzungsbilder festgelegt. Auf der Grundlage dieser Verordnung hat die Suva verschiedene Feinrastertabellen entwickelt, um die entsprechenden Schätzungen zu vereinheitlichen. Die Tabelle 11, die letztmals 1998 revidiert wurde, betrifft unfallbedingte Augenschäden.  

      Es hat sich gezeigt, dass einige Abschnitte für die praktische Anwendung hinfällig sind. Einige halten einer vertieften medizinischen Betrachtung, die den medizinischen Fortschritt und damit die therapeutischen Möglichkeiten berücksichtigt, nicht mehr stand.  

      Weiter weist ein Abschnitt mathematische Fehler auf (Tabelle «Kombinierte Augenschäden», letzte Seite der Tabelle 11 Revision 1998), wobei ein höherer Gesundheitsschaden in einem teilweise geringeren Integritätsschaden (IS) resultiert.  

      Ausserdem sind die Angaben zur Schätzung des Integritätsschadens bei Diplopie und Gesichtsfeldausfällen nur sehr summarisch dargestellt. Suva-intern wurde bei diesen Gesundheitsschäden der Integritätsschaden anhand einer 1994 erarbeiteten Suva-Publikation geschätzt (Arbeitsbehelf Augenschäden 1994, kurz ABAS94, Suva-Publikation 2293/5). Diese Publikation wurde nicht digitalisiert und war daher einem breiteren Publikum oder für gutachterliche Tätigkeiten nur schwer zugänglich.  

      Aufgrund dieser Aspekte wurde der Wunsch nach einer Überarbeitung der Tabelle 11 laut. Die Revision soll die zum Teil erheblichen medizinischen Fortschritte des letzten Vierteljahrhunderts berücksichtigen, die mathematischen Fehler beheben und die wenig präzisen Angaben bezüglich Gesichtsfeldeinschränkungen und Diplopie in ein einziges Dokument integrieren.  

      Ein weiteres Ziel bestand darin, die Lesbarkeit für auch etwas ungeübtere Anwenderinnen und Anwender zu vereinfachen.  

      Insgesamt handelt es sich nicht um eine umfassende Revision, denn in den Grundzügen werden die ophthalmologischen gesundheitlichen Einschränkungen nicht oder nur wenig verändert mit einem entsprechenden Integritätsschaden bemessen.  

      Überlegungen und Kommentare zur Revision

      Gliederung der Tabelle 11

      Einleitend werden in den allgemeinen Hinweisen kurz die gesetzlichen Grundlagen aufgeführt, die weiteren Abschnitte geben Richtwerte für den Integritätsschaden bei diversen augenärztlichen Gesundheitsschäden an, gegebenenfalls mit einer kurzen Begründung.  

      Revision der einzelnen Absätze

      Einleitung, allgemeine Hinweise

      Hier werden kurz die gesetzlichen Grundlagen, das Bundesgesetz über die Unfall-versicherung (UVG) und die Verordnung über die Unfallversicherung (UVV), für die Bemessung des Integritätsschadens dargelegt, ebenso gewisse grundsätzliche Überlegungen.  

      Der Hinweis auf die Rintelen-Tabellen, der in der Revision von 1998 noch erwähnt ist, wird weggelassen. Diese Tabellen von 1954 sind historisch interessant, aber in der heutigen Praxis nicht mehr bekannt oder gebräuchlich. Die wesentlichen Grundüberlegungen der darin enthaltenen Gedanken sind nach wie vor gültig und über das ophthalmologische Grundwissen in die heutige Zeit übernommen worden. Gleiches gilt für das Vademecum der Schweizerischen Ophthalmologischen Gesellschaft, das seit Jahrzehnten nicht mehr aktualisiert wurde und nicht mehr verfügbar ist.  

      Ähnliches gilt für die Bemerkung über nicht versicherte Vorschäden. Diese Überlegungen sind in den allgemeinen Überlegungen zum IS fachübergreifend gültig. Der Hinweis auf Zukunftsrisiken ist obsolet, gemäss Art. 36 UVV sind voraussehbare Verschlimmerungen angemessen zu berücksichtigen.  

      1. Einseitige Visusreduktion

      Die Angabe des Fernvisus wurde von der Revision 1998 unverändert übernommen. Dies im Wissen, dass der Visus heute nicht mehr dezimal-arithmetisch (1,0; 0,9; 0,8; 0,7; … 0,1; 0), sondern logarithmisch (1,0; 0,8; 0,63; 0,5; … 0,16; 0,1; 0,08; 0,05; 0,0) angegeben werden sollte. In der klinischen Praxis sind jedoch die dezimal-arithmetischen Angaben nach wie vor gebräuchlich und werden daher für die Schätzung des IS beibehalten. Neben der Tatsache, dass für schlechtere Visuswerte bereits in der Revision 1998 höhere IS-Werte eingesetzt werden, dient die Übernahme der Gleichbehandlung aller Fälle über die aktuelle Revision hinweg.  

      Eine in der Praxis häufiger aufgetretene Unsicherheit bei der IS-Schätzung soll behoben werden. Neu wird dem Visuspotenzial mehr Gewicht beigemessen, also dem mit optimaler Korrektur und nach endgültigem Fallabschluss voraussichtlich erreichbaren Fernvisus (siehe auch Absätze «Aphakie» und «Anisometropien» unten). Es kommt im versicherungs- medizinischen Alltag nicht selten vor, dass nach Fallabschluss und somit nach Schätzung des IS noch Jahre später ein erneuter Eingriff vorgenommen wird, der das Visuspotenzial besser ausschöpft. So kann beispielsweise eine Hornhautnarbe, deren operative Behandlung zum Zeitpunkt des gewünschten Fallabschlusses abgelehnt wurde (von den behandelnden Ärzten oder der versicherten Person, z. B. wegen zu hohen Risikos), zu einem späteren Zeitpunkt doch noch operiert werden wenn aufgrund einer verbesserten Operationstechnik der Eingriff leichter, sicherer und zuverlässiger geworden ist. In einem solchen Fall wäre der IS zum Teil deutlich überschätzt.  

      2. Pseudophakie, Aphakie

      Heutzutage ist die unfallkausale Aphakie selten ein dauerhafter Zustand. In den allermeisten Fällen wird die fehlende intraokulare Linse zu einem späteren Zeitpunkt durch eine künstliche Linse ersetzt (sekundäre Linsenimplantation). Dieser Zeitpunkt kann Jahre später eintreten. Somit ist es nicht mehr gerechtfertigt, für die Aphakie den IS separat zu schätzen. Wenn der Fallabschluss administrativ gewünscht ist, ist für die Schätzung des IS stattdessen von einer künftigen Pseudophakie (Kunstlinseneinpflanzung nach Linsenentfernung) auszugehen. Ist eine Sekundärimplantation medizinisch nicht sinnvoll oder möglich, namentlich bei Vorliegen weiterer visusbeeinträchtigender Gesundheitsschäden, ist der IS nach Absatz 2 (einseitige Visusreduktion) oder Absatz 9 (kombinierte Augenschäden) zu bemessen. Natürlich kann diese Vorgabe durch entsprechende Argumentation gutachterlich übersteuert werden, also begründet ein anderer IS geschätzt werden.  

      3. Anisometropien

      Anisometropien (grosse Refraktionsdifferenzen zwischen den beiden Augen) können ab einem gewissen Grad nicht mehr mit einer Brille versorgt werden, in der Regel bei mehr als 3,0 dpt Differenz zwischen beiden Augen. Hier muss eine Versorgung entweder mit Kontaktlinsen oder mittels eines refraktiven Eingriffs erfolgen. Somit ist eine Schätzung des IS nach dem zu erwartenden bestkorrigierten Visus gemäss Absatz 2 zu bemessen. Auch diese Vorgabe kann gutachterlich begründet übersteuert werden.  

      4. Kosmetische Schäden

      Die in der Revision 1998 auf verschiedene Absätze verteilten Probleme wurden in einem Punkt zusammengefasst. Nur in gut begründeten Fällen soll für diese Schäden ein zusätzlicher IS von über 5 % geschätzt werden. Für den Verlust des Sehvermögens auf einem Auge wurde vom Gesetzgeber als grösstem Schaden ein IS von 30 % vorgegeben (Anhang 3 UVV). Somit ist z. B. die Prothesenversorgung eines Auges mit 35 % IS zu bemessen (dies entspricht einer totalen einseitigen Erblindung zuzüglich einer kosmetischen Entstellung, IS 30+5 = 35 %).  

      5. Diplopie

      Die Diplopie wurde in der Revision 1998 nur summarisch berücksichtigt. Um die Schätzung des IS zu präzisieren, wurde in der Suva-internen Praxis auf die Suva-Publikation 2293/5, Arbeitsbehelf Augenschäden 1994 (ABAS94), zurückgegriffen und gemäss der Ziffer 931 die Schätzung des IS vorgenommen. ABAS94 wurde nicht mehr aufdatiert und es liegt keine digital publizierte Version vor. Daher ist die Publikation den meisten Suva-externen Anwendern nicht mehr zugänglich. Die Integration der entsprechenden Grafik in die Tabelle 11 ist somit folgerichtig.  

      6. Gesichtsfeldausfälle

      Ähnlich wie die Schätzung der Diplopie wurde auch die Schätzung der Gesichtsfeldausfälle Suva-intern mittels ABAS94 vorgenommen. Die Werte wurden präzisiert und in die Tabelle 11 übernommen.  

      7. Kombinierte Augenschäden

      Die Tabelle «Kombinierte Augenschäden» der Revision 1998 war fehlerhaft und wurde mithilfe des Suva-internen Versicherungsmathematikers neu berechnet und plausibilisiert.  

      Zusammenfassung

      Die Autoren der Revision 2024 von Tabelle 11 haben eine eigenständige Publikation angestrebt, die es erlaubt, den Integritätsschaden aufgrund unfallbedingter ophthal- mologischer Gesundheitsstörungen konsistent zu schätzen. Einerseits sollen dabei genügend Anhaltspunkte vorgegeben werden, andererseits sollen die jeweiligen gutachterlichen Schätzungen genügend Spielraum erhalten. Abweichungen von den IS-Werten in der Tabelle 11 können mit entsprechender Argumentation gutachterlich begründet werden.  

      Die bisher Suva-intern verwendete Publikation ABAS94, die für externe Gutachterinnen und Gutachter kaum verfügbar war, wurde in die Tabelle 11 integriert.  

      Weiter wurde versucht, medizinische Fortschritte in der Ophthalmologie besser zu berücksichtigen. Dies betrifft insbesondere den potenziell bestmöglich erreichbaren Visus, die Aphakie sowie die Anisometropie.  

      Nicht zuletzt soll die Revision 2024 auch für weniger geübte Nutzer eine verständliche Anwendung darstellen.  

      Korrespondenzadresse

      Dr Dominik Gerber Hostettler
      Suva Versicherungsmedizin
      Fluhmattstrasse 1
      6001 Luzern

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