Job-Matching im Fokus des Schadenfallprozesses
Im Suva-Schadenfallprozess klären unterschiedliche Stakeholder komplexe Fragen zur Unfallkausalität, Arbeitsfähigkeit, beruflichen Wiedereingliederung und Erwerbsfähigkeit ab. In einer 2017 durchgeführten qualitativen Befragung zentraler Stakeholdergruppen stellten sich Transparenz, Standardisierung, Objektivität und Effizienz als zentrale Problembereiche und Herausforderungen bei Schadenfallabklärungen heraus. Den Studienteilnehmern wurde der Entwurf eines Dokumentationsstandards vorgestellt, der die arbeitsbezogenen Fähigkeiten der versicherten Person systematisch den Anforderungen einer Arbeitstätigkeit gegenüberstellt. Der Job-Matching Ansatz wurde als vielversprechend beurteilt, um die Nachvollziehbarkeit und Validität von Schadenfallabklärungen zu verbessern, Schnittstellen im Prozess zu entschärfen und die Effektivität der Wiedereingliederung zu steigern.
Inhalt
1. Einleitung
Abklärungen und Entscheidungen zur Unfallkausalität, Arbeitsfähigkeit, beruflichen Wiedereingliederung und Erwerbsfähigkeit, die im Rahmen des Suva-Schadenfallprozesses stattfinden, involvieren unterschiedliche Stakeholdergruppen (Abbildung 1). Die hohe Komplexität und finanzielle Tragweite dieser Fragestellungen erfordern Fairness, Transparenz sowie einen effizienten und effektiven Abklärungs- und Wiedereingliederungsprozess.
Aus Gesprächen mit dem Versicherungsmedizinischen Kompetenzzentrum der Suva ergab sich der Wunsch die Transparenz von Schadenfallabklärungen zu verbessern, indem neben detaillierten medizinischen Abklärungen auch ein systematischer Einbezug der Tätigkeitsprofile der Versicherten gewährleistet wird. Zu diesem Zweck hat die Schweizer Paraplegiker-Forschung den Entwurf eines Dokumentationsstandards für die zentralen Abklärungen im Suva-Schadenfallprozess erarbeitet (Abbildung 2). Dieser verfolgt einen ganzheitlichen, zielorientierten Ansatz und basiert auf der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) [1]. 'Zielorientiert' bezieht sich auf Arbeitspartizipation als zentraler Outcome im Schadenfallprozess. Dies wird durch die Gegenüberstellung von Person und Job, also dem systematischen Abgleich der arbeitsbezogenen Fähigkeiten der Versicherten mit den spezifischen Anforderungen ihrer bisherigen Tätigkeit oder einer Verweistätigkeit operationalisiert. Im Gegensatz zu einer rein defizitorientierten, biomedizinischen Vorgehensweise hat ein ICF-basierter Job-Matching Ansatz das Potential, die zentralen Abklärungen im Schadenfallprozess auf das Arbeitsintegrationsziel auszurichten und nicht nur systematisch, sondern auch möglichst nachvollziehbar und valide zu gestalten. Dies fördert einen vergleichbaren, transparenten, effektiven und effizienten Abklärungs- und Integrationsprozess [2, 3]. Der im vorliegenden Projekt entworfene Standard kann auch als Teil nationaler [4-6] und internationaler [7-9] Bestrebungen zur Implementierung ICF-basierter Ansätze im versicherungsmedizinischen Kontext angesehen werden. Wobei dort jedoch bisher die Operationalisierung von Arbeitspartizipation und die Verknüpfung von beruflicher Integration und Arbeits- bzw. Erwerbsfähigkeitseinschätzung eine weniger zentrale Rolle einnahm.
Im Zentrum des Dokumentationsstandards steht ein Job-Matchingprofil, welches das Fähigkeitsprofil der Versicherten dem standardisierten Anforderungsprofil ihrer bisherigen Tätigkeit oder einer Verweistätigkeit gegenüberstellt. Ein Schädigungsprofil zur Beschreibung unfallbedingter und nicht-unfallbedingter körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen und ein Kontextprofil zur Erfassung umwelt- und personbezogener Barrieren und Förderfaktoren bilden die beiden Rahmenprofile. Zusammenhänge zwischen den Kategorien der Rahmenprofile und allfälliger Mismatches im Matchingprofil können durch profilübergreifende Pfeile dargestellt werden. Der Standard ist sowohl als Auslegeordnung für Abklärungen der Arbeitsfähigkeit, Erwerbsfähigkeit (Zumutbarkeit) und des Wiedereingliederungspotentials als auch für eine prozessübergreifende Verlaufsdokumentation denkbar. Die Anwendung erfordert eine strukturierte Vorgehensweise und erfolgt in vier Schritten:
- Bestimmung des Person-Job Matches: Welche Anforderungen einer bestimmten Tätigkeit (bisherige oder Verweistätigkeit) kann eine versicherte Person noch ausüben und welche nicht mehr?
- Bestimmung der Determinanten von Mismatches: Welche unfall- und krankheitsbedingten Schädigungen (z. B. Schmerz) und welche Barrieren auf Ebene Umwelt (z. B. schlecht zugängliche Arbeitsumgebung) oder Person (z. B. negative Arbeitseinstellung) beeinflussen den Person-Job Match negativ?
- Bestimmung der Ressourcen zur Reduktion von Mismatches: Welche Förderfaktoren auf Ebene Umwelt (z. B. Hilfsmittel) oder Person (z. B. hohe Selbstwirksamkeit) können den Person-Job Match positiv beeinflussen?
- Bestimmung der durch die Suva versicherten Mismatches mittels Profilverbindungen: Welche Mismatches sind durch unfallbedingte Schädigungen (z. B. Schmerz) in Abgrenzung zu nicht-unfallbedingten Komorbiditäten (z. B. vorbestehende Depression) oder umwelt- bzw. personbezogene Barrieren bedingt?
Während Schritt 2 und 3 Ansatzpunkte für Interventionen zur Verbesserung des Person-Job Matches liefern (Wiedereingliederungsplanung), erleichtert Schritt 4 die Bestimmung von Arbeits- und Erwerbsfähigkeit als Basis für die Festlegung von Suva-Taggeldern und Suva-Renten.
Um zu klären, ob die Entwicklung eines ICF-basierten Dokumentationsstandards für den Suva-Schadenfallprozess gezielt weiterverfolgt werden soll, waren zunächst anhand einer breit angelegten Stakeholderanalyse die folgenden beiden Fragen zu beantworten:
- Welches sind aus Sicht verschiedener am Schadenfallprozess beteiligter Stakeholdergruppen die zentralen Herausforderungen bei Suva-Schadenfallabklärungen?
- Besteht aus Sicht der Stakeholder Bedarf nach einem ICF-basierten Dokumentationsstandard und welche Chancen sowie Risiken sind mit der Anwendung eines entsprechenden Instruments in der Suva-Schadenfallabklärung verbunden?
2. Methode
Studiendesign
Die Studie wurde von der Schweizer Paraplegiker-Forschung durchgeführt. Sie verwendete zur Beantwortung der offenen Forschungsfragen ein exploratives, qualitatives Design. Es wurden semi-strukturierte Experteninterviews mit Vertretern zentraler Stakeholdergruppen des Suva-Schadenfallprozesses durchgeführt. Mittels einer thematischen Inhaltsanalyse wurden die zentralen Herausforderungen im Schadenfallprozess sowie die Chancen und Risiken bei der Anwendung des Dokumentationsstandards herausgearbeitet [10]. In einem finalen Schritt wurden „Participant-Check“-Fokusgruppen durchgeführt, bei welchen die Studienergebnisse durch einen Teil der Befragten kritisch reflektiert wurden [11].
Teilnehmer und Rekrutierung
Die Studie wurde mit Vertretern der folgenden fünf Stakeholdergruppen durchgeführt:
- Suva Versicherungsleistungen (Agenturleiter, Versicherungsleistungsspezialisten, Case Manager)
- Suva Versicherungsmedizin (Kreisärzte)
- Behandelnde Ärzte (Suva Klinikärzte, Suva-externe Gutachter, Hausärzte)
- Schadenanwälte
- Richter
Für die Interviews sollten acht Teilnehmer pro Stakeholdergruppe rekrutiert werden. Die Suva-internen Stakeholder sowie die Suva-externen Gutachter wurden randomisiert aus einem von der Suva zur Verfügung gestellten Pool potentieller Teilnehmer ausgewählt und kontaktiert. Die Rekrutierung der Suva-externen Teilnehmer (Hausärzte, Schadenanwälte, Richter) erfolgte über Fachstellen, welche die Studieninformationen verschickten und Interessierte aufforderten, sich beim Studienteam zu melden.
Für die abschliessenden Fokusgruppen wurde angestrebt, diese mit je einem Vertreter pro Stakeholdergruppe durchzuführen, um eine möglichst breitgefächerte Diskussion der Studienergebnisse zu ermöglichen.
Datenerhebung
Die semi-strukturierten Interviews fanden am Arbeitsplatz der Teilnehmer statt und dauerten 60 bis 90 Minuten. Sie wurden mithilfe eines Leitfadens durchgeführt, der an den zentralen Forschungsfragen des Projekts orientiert war. Zur Diskussion der Chancen und Risiken eines ICF-basierten Dokumentationsstandards wurde den Teilnehmenden der in Abbildung 2 dargestellte Entwurf präsentiert.
Die abschliessenden Fokusgruppendiskussionen fanden in den Räumlichkeiten der Suva statt und dauerten 120 bis 150 Minuten. Zur Vorbereitung der Gespräche wurde den Teilnehmern vorgängig eine Zusammenstellung der Studienergebnisse zugestellt. Diese wurden im Rahmen der Fokusgruppe nochmals durch die Studienleiter vorgestellt und danach mit den Teilnehmenden diskutiert.
Datenanalyse
Die Interviewtransskripte wurden thematisch analysiert [10], wobei die Forschungsfragen und die Phasen des Suva-Schadenfallprozesses (Einschätzungen zur Kausalität, Arbeitsfähigkeit, Wiedereingliederung, Erwerbsfähigkeit, rechtliche Phase) das Grundraster der Analyse bildeten. Innerhalb dieses Grundrasters wurden die Originalaussagen der Teilnehmer (z. B. lückenhafte Tätigkeitsprofile als Problem für die Arbeitsfähigkeitseinschätzung) durch die Forscher schrittweise zu übergreifenden, neuen Themen (z. B. Standardisierung als Herausforderung für Arbeitsfähigkeitsabklärungen) zusammengefasst und nach Relevanz gewichtet. Für die Gewichtung war die Anzahl der Nennungen eines Themas sowie die Betonung der Wichtigkeit durch die Studienteilnehmer in den Interviews und den Fokusgruppendiskussionen entscheidend. Eine rein quantitative Gewichtung hätte aufgrund des qualitativen Studiendesigns und der begrenzten Anzahl Interviews keinen Sinn gemacht.
3. Resultat
Studienteilnehmer
Von Februar bis Mai 2017 wurden insgesamt 43 Interviews durchgeführt. Die Teilnehmer waren hauptsächlich Männer (n=38), fast ausschliesslich in der Deutschschweiz tätig und verfügten über eine grosse Erfahrung zu Schadenfallabklärungen (im Schnitt 13 Jahre in ihrer Tätigkeit). An den drei abschliessenden Fokusgruppen nahmen 16 Personen teil, wobei jede Stakeholdergruppe mit Ausnahme der Kreisärzte jeweils zumindest einen Vertreter pro Fokusgruppe stellte. Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Interview- sowie der Fokusgruppenteilnehmer auf die verschiedenen Stakeholdergruppen.
Herausforderungen im Suva-Schadenfallabklärungsprozess
Die Stakeholderanalyse ergab, dass der Suva-Schadenfallprozess im Vergleich zum Abklärungsprozess anderer Kostenträger wie der IV oder privater Unfall- oder Krankenversicherer mehrheitlich positiv wahrgenommen wird. Dabei wird die Zusammenarbeit innerhalb und mit der Suva geschätzt und die Suva wird insbesondere aufgrund ihrer Angebote in der Versicherungsmedizin und im Case Management als engagiert und kompetent angesehen.
«Die Suva hat zu Recht einen guten Ruf, wenn man mit den privaten UVG-Versicherern vergleicht. Es ist viel professioneller, auch im Juristischen kann man ihnen ‚ein Kränzchen‘ winden.» Richter
Trotz der insgesamt positiven Beurteilung der Kompetenz und Professionalität der Suva sahen die Studienteilnehmer auch Herausforderungen und Optimierungspotential im Schadenfallprozess. Tabelle 2 gibt eine Übersicht zu den neun zentralsten Herausforderungen und ihrer Relevanz für die unterschiedlichen Stakeholdergruppen.
Die vier zentralsten Herausforderungen zeigten sich bezüglich Standardisierung, Transparenz, Objektivität und Effizienz.
Herausforderungen hinsichtlich Standardisierung
- Fehlende Vollständigkeit des Gesamtdossiers sowie von Arztberichten, Zumutbarkeitsprofilen
- Fehlende oder unzureichende Arbeitsplatzbeschreibungen «Das Jobprofil wird administrativ nicht so oft eingesetzt. Für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeit würde ich mir wünschen, dass es vielleicht doch öfters eingesetzt wird.» Kreisarzt
- Abweichende Beurteilungen zwischen Gutachtern sowie zwischen Gutachtern und Hausärzten
- Ungenügende Digitalisierung der Dokumentationen
Herausforderungen hinsichtlich Transparenz
- Mangelnde Nachvollziehbarkeit des Zusammenhangs zwischen Unfall, Gesundheitsschaden und Arbeitsfähigkeit/Zumutbarkeit, speziell bei Schmerzstörungen und psychischen Problematiken
- Mangelnde Validität der Zumutbarkeitsprofile und der auf den DAP (Dokumentation von Arbeitsplätzen) basierenden Verweistätigkeiten der Suva (vor allem genannt von Schadenanwälten)
- Schlechte Verständlichkeit medizinischer Berichte
- Pauschalbeurteilungen bei Kausalitätsfragen
«Die grösste Schwierigkeit […] sehe ich, wenn die Abklärungen wenig ausführlich sind und danach nicht ‚verheben’. Wenn [die Suva] etwas ablehnt, ist es teilweise nicht genug begründet.» Versicherungsleistungsspezialist
Herausforderungen hinsichtlich Objektivität
- Objektive Beurteilung der Adäquanz, Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeit, vor allem bei Schmerzstörungen und psychischen Problematiken
- Objektivierung subjektiver Angaben des Versicherten (z. B. bezüglich Arbeitsanforderungen)
- Objektive Beurteilung der Qualität von Gutachten (vor allem genannt von Richtern)
Herausforderungen hinsichtlich Effizienz
- Verzögerte Zuweisung von Versicherten zu kreisärztlichen Untersuchungen, zum Case Management oder zur Wiedereingliederung
- Ungenügende Abklärung der Unfallkausalität zu Prozessbeginn
- Aufwand und Dauer der Abklärungen (Dokumentationen, Case Management, Gerichtsentscheide)
- Schnittstellenproblematik zwischen Suva und IV
Weitere zentrale Herausforderungen zeigten sich bezüglich Wiedereingliederungseffektivität, Knowhow und Unabhängigkeit sowie hinsichtlich den gesetzlich-politischen Rahmenbedingungen rund um den Suva-Schadenfallprozess. Als besonders problematisch wurden die folgenden Themen gesehen:
- Mangelndes Verständnis für Behinderung und hohe Leistungserwartung seitens Arbeitgeber bei der Wiedereingliederung in die bisherige Tätigkeit
- Nicht ganzheitliches Vorgehen der Suva bei der Bestimmung passender Verweistätigkeit
- Fehlende versicherungsmedizinische Kompetenz der Hausärzte und Sachbearbeiter
- Abhängigkeitsverhältnisse in der Begutachtung: Wirtschaftliche Abhängigkeit externer Gutachter, organisatorische Abhängigkeit der Suva-Kreisärzte sowie persönliche Abhängigkeit der Hausärzte
«Für mich stellt sich die Frage, ob Gutachter, die nur Gutachten machen […] abhängig sind? [Die] Frage der Unabhängigkeit der Gutachten selber ist für mich das grösste Problem.» Schadenanwalt - Versicherungsrechtliches Gefüge: Trennung von Suva und IV
Umwelt- und personbezogene Kontextfaktoren wie das Alter, die Sprache, die Motivation oder das soziale Umfeld der Versicherten werden stakeholderübergreifend als zentrale Barrieren oder Förderfaktoren im Schadenfallprozess betrachtet, insbesondere für die Wiedereingliederung.
«Kontextfaktoren haben ganz extrem Einfluss darauf, ob jemand Chancen hat in den Arbeitsprozess zurückzukehren oder nicht.» Schadenanwalt
Der Umgang mit Kontextfaktoren im Rahmen von Schadenfallabklärungen wird von den Befragten ebenfalls als besondere Herausforderung erlebt.
Herausforderungen bezüglich Kontextfaktoren
- Unsicherheit, ob und wie Kontextfaktoren bei Arbeits- und Erwerbsfähigkeit dokumentiert werden sollen
- Fehlende Transparenz von Gutachten aufgrund unvollständiger Angaben zu Kontextfaktoren
«Genau diese Faktoren sind eigentlich eine Möglichkeit für uns zu sagen, ob [das Ergebnis] für uns nachvollziehbar und plausibel ist […] Es ist eigentlich ein bisschen das Salz in der Suppe bei uns, diese Faktoren.» Richter
Chancen und Risiken eines ICF-basierten Dokumentationsstandards für den Suva-Schadenfallprozess
In den Interviews beurteilten die befragten Stakeholder den vorgestellten Entwurf eines ICF-basierten Dokumentationsstandards mehrheitlich positiv. Während insbesondere Suva Agenturleiter, Suva Kreisärzte und behandelnde Ärzte dem Standard ein Potential zuschrieben, aktuelle Herausforderungen im Schadenfallprozess zu lösen, bildeten die Schadenanwälte die reservierteste Stakeholdergruppe und sahen mehr Risiken als Chancen für die künftige Anwendung eines entsprechenden Instruments. Die Befragten erkannten im präsentierten Entwurf einerseits eine systematische Auslegeordnung für eine ganzheitliche und valide Einschätzung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und andererseits eine übergreifende Verlaufsdokumentation zur Überbrückung von Schnittstellen im Schadenfallprozess.
Der Standard wird insbesondere als Chance für Verbesserungen in den Bereichen Standardisierung, Transparenz und Effizienz gesehen. Bezüglich Standardisierung wird das Tool als einheitliche Abklärungsgrundlage wahrgenommen, welche die Vergleichbarkeit von Arbeits- und Erwerbsfähigkeitsentscheidungen erhöhen könnte. Hinsichtlich Transparenz erlaubt der Standard eine ganzheitliche Visualisierung der Auswirkungen unfallbedingter Schädigungen und kontextueller Einflussfaktoren auf die Arbeitsfähigkeit und Zumutbarkeit. Das Matching arbeitsbezogener Fähigkeiten mit standardisierten Anforderungsprofilen von Berufen könnte die Validität von Arbeits- und Erwerbsfähigkeitseinschätzungen erhöhen. Bezüglich Effizienz wird die systematische Darstellung der für die Entscheide zentralen Informationen positiv erlebt. Auch eine Anwendung des Tools als Verlaufsdokumentation wird als gewinnbringend für eine zielgerichtete Planung von Abklärungen und Wiedereingliederungsmassnahmen sowie fürs Schnittstellenmanagement im Schadenfallprozess angesehen.
«Das ,Für‘ ist, dass das wirklich schön aufbereitet ist. Alle Informationen haben ihre Bedeutung, Wertigkeit und sind wichtig.» Kreisarzt
Weiter attestieren die Befragten dem Standard auch ein Potential zur Erhöhung der Wiedereingliederungseffektivität und zur Erleichterung einer objektiven Beurteilung von Arbeits- und Erwerbsfähigkeit.
Risiken bei der Anwendung des Standards sehen vor allem Schadenanwälte und zwar primär im Suggerieren von Scheingenauigkeit bei Arbeitsfähigkeits- und Zumutbarkeitsbeurteilungen. Weitere Befürchtungen beziehen sich auf einen möglichen Mehraufwand im Bereich Dokumentation, eine zu exzessive Kriterienorientierung bei zentralen Entscheidungen sowie offene Fragen zum Datenschutz.
«Aber [es hat] dann wie nochmals quasi den Nimbus einer Tatsache, wenn Sie mit einer Grafik und so schönen Kennzeichen, Nummern und Begrifflichkeiten daherkommen.» Schadenanwalt
4. Diskussion der Resultate und Ausblick
Die vorliegende Studie liefert der Suva systematische Informationen zu aktuellen Herausforderungen im Schadenfallprozess aus Sicht der beteiligten Stakeholdergruppen. Daraus ergeben sich Ansatzpunkte für Prozessoptimierungsstrategien insbesondere bezüglich Standardisierung, Transparenz und damit verbunden Effizienz, Objektivität sowie Wiedereingliederungseffektivität. Diese von den Stakeholdern wahrgenommenen Herausforderungen beeinflussen sich wechselseitig, so dass Optimierungen bei einzelnen Herausforderungen auch andere Problembereiche positiv beeinflussen können. Beispielsweise kann eine verbesserte Standardisierung im Sinne systematischer und vollständiger Arbeitsplatzbeschreibungen die Effizienz von Arbeitsfähigkeitsabklärungen sowie die Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Falldossiers erhöhen. Dies kann wiederum die objektive Beurteilung der Arbeitsfähigkeit erleichtern.
Die Erarbeitung und Implementierung eines ganzheitlichen und zielorientierten Denkrahmens für den Suva-Schadenfallprozess, wie er in der vorliegenden Studie präsentiert wurde, kann zur Lösung der von den Befragten geäusserten Herausforderungen beitragen. Ein entsprechender Dokumentationsstandard erscheint sowohl für Einzelabklärungen der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit als auch als übergreifende Verlaufsdokumentation im Schadenfallprozess vielversprechend. Dabei steht die standardisierte, nachvollziehbare und valide Darstellung der für die zentralen Entscheidungen relevanten Informationen im Zentrum. Eine solche Darstellung kann sich positiv auf die Effizienz des Prozesses, die Effektivität der Wiedereingliederung und die Objektivität der Entscheidungsfindung auswirken. Ein entsprechender Standard könnte auch bei der Wirkungsmessung beruflicher Wiedereingliederungsleistungen eine wichtige Rolle spielen. Ein entsprechendes webbasiertes Instrument, welches Arbeitspartizipation ebenfalls über die Passung zwischen Person und Job operationalisiert, wurde bereits für den beruflichen Integrationsprozess von Personen mit einer Querschnittlähmung entwickelt [12].
Eine mögliche Umsetzung des im vorliegenden Artikel vorgestellten ICF-basierten Dokumentationsstandards muss im Kontext der Digitalisierungsbestrebungen der Suva gesehen und darin positioniert werden. Zudem ist das Mitwirken der Stakeholder und zukünftigen Nutzer fundamental, damit die Akzeptanz aller involvierter Stakeholdergruppen gewährleistet ist und auch wirklich Herausforderungen gelöst und nicht zusätzliche generiert werden [13].
Basierend auf den Rückmeldungen der befragten Stakeholder könnte die Implementierung eines ICF-basierten Dokumentationsstandards in den Suva-Schadenfallprozess mittel- und langfristig zu Einsparungen bei den Prozess- und Fallbearbeitungskosten (Effizienz), Gerichtskosten (Objektivität) und Rentenkosten (Wiedereingliederungseffektivität) beitragen. Durch den systematischen Fokus auf Arbeitspartizipation als zentralen Outcome im Sozialversicherungswesen könnte die Suva mit der Entwicklung eines solchen Standards ihre Vorreiterrolle in der beruflichen Integration stärken und das Konzept der nachhaltigen Wiedereingliederung entscheidend vorantreiben.
Korrespondenzadresse
Urban Schwegler
Schweizer Paraplegiker-Forschung
1Schweizer Paraplegiker Forschung, Nottwil
2Universität Luzern, Departement Gesundheitswissenschaften und Medizin, Luzern
Dieser Artikel basiert auf der Erstpublikation Schwegler U, Trezzini B, Schiffmann, B. Current challenges in disability evaluation and the need for a goal-oriented approach based on the ICF: a qualitative stakeholder analysis in the context of the Swiss accident insurance. Disability and Rehabilitation. 2019. doi: 10.1080/09638288.2019.1692377
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Die Studie wurde finanziell unterstützt von der Suva. Zwischen Finanzierung und Durchführung der Studie bestand eine klare Trennung. Die Finanzierung hatte keinen Einfluss auf das Studiendesign, die Studienergebnisse, oder die Publikation der Ergebnisse.