Suva Medical Artikel
28. Juni 2024 | von Joachim Schuchert

Stellenwert der Rehabilitation in der Versicherungsmedizin

Die Rehabilitation ist ein wichtiges Standbein der Suva im Genesungsprozess verunfallter Personen. Ein Fallbeispiel erläutert verschiedene rehabilitative Massnahmen, Kriterien und Abläufe in der versicherungsmedizinischen Begleitung und zur Vorbereitung auf eine erfolgreiche Wiedereingliederung.

Inhalt

      Einleitung/Herausforderung

      Bei der Begleitung von verunfallten Versicherten stellt sich der Schadenabwicklung wie auch der Versicherungsmedizin der Suva immer wieder die Frage, ob und wann ambulante oder stationäre rehabilitative Massnahmen indiziert sind. In aller Regel ist dies sowohl bei unkomplizierten Fällen (z. B. Aussenbandruptur am oberen Sprunggelenk: keine Reha-Indikation) als auch bei komplizierten Fällen (z. B. Polytrauma: Reha-Indikation vorhanden) leicht zu beantworten. Herausfordernd sind jedoch Fälle, die primär nicht komplex aussehen, bei denen aber dennoch eine Rehabilitationsindikation gegeben ist. Ferner stellt sich zusätzlich die Frage, ob und wann rehabilitative Assessments zur Anwendung kommen sollen. Anhand eines Fallbeispiels sollen diese Fragen nachfolgend beleuchtet werden. 

      Der besondere Fall

      Eine 60-jährige Versicherte stürzt bei Glatteis und zieht sich eine trimalleoläre OSG-Luxationsfraktur rechts sowie eine distale Radiusfraktur links zu. Sie bewohnt eine Wohnung im 2. Stock ohne Lift und lebt allein.

      Bild1.jpg
      Abb. 1: OSG-Luxationsfraktur rechts (Quelle: mit freundlicher Genehmigung von VIVOCASE und Dr. Koehl, Klinikum Fichtelgebirge)
      Bild2.jpg
      und distale Radiusfraktur links  (Quelle: mit freundlicher Genehmigung von VIVOCASE und Dr. Koehl, Klinikum Fichtelgebirge)

      Beide Frakturen werden zeitnah operativ versorgt und sind bei Austritt aus dem Spital bewegungs- und übungs-, jedoch noch nicht belastungsstabil. Aufgrund der Wohnsituation (alleinlebend, 2. Stock ohne Lift) ist die Rückkehr in die Wohnung noch nicht möglich. Gleichzeitig sind eine intensive ergotherapeutische Beübung des linken Handgelenks, der Hand und der Finger sowie die physiotherapeutische Beübung des rechten oberen Sprunggelenks zur Steigerung der Beweglichkeit des OSG medizinisch erforderlich. Daneben braucht die Patientin eine Gangschulung mit initialer Entlastung der linken oberen und der rechten unteren Extremitäten (bevorzugt im hohen Achselgehwagen) sowie entstauende Massnahmen, wie z. B. Lymphdrainagen, für den linken Arm und das rechte Bein bei noch erheblicher postoperativer Lymphabflussstörung mit entsprechenden Schwellungszuständen an den beiden betroffenen Extremitäten. Schlussendlich ist eine niederschwellige psychologische Begleitung der Versicherten von Vorteil, da sie sich Sorgen macht, ob sie jemals in ihre Wohnung zurückkehren kann. 

      Bild3.jpg
      Abb. 2: Post-operative Versorgung OSG rechts (Quelle: mit freundlicher Genehmigung von Kevin Papst und Dr. Schandl/Dr. Wolters, Handchirurgie Ravensburg)
      Bild4.jpg
      und distaler Radius links (Quelle: mit freundlicher Genehmigung von Kevin Papst und Dr. Schandl/Dr. Wolters, Handchirurgie Ravensburg)

      Die Herausforderung für die Suva besteht darin, solche Rehabilitationsfälle rechtzeitig zu erkennen und die entsprechenden erforderlichen Schritte einzuleiten (z. B. Abstimmung mit dem Sozialdienst im Spital, Organisation eines Rehaplatzes), um die 60-jährige alleinstehende Versicherte optimal zu begleiten. Die Schadenabwicklung der Suva beobachtet zusammen mit der Versicherungsmedizin den Heilverlauf von Versicherten. Sie kann den Rehabilitationsbedarf einer versicherten Person gemäss dem Suva-internen Kriterienkatalog (siehe Abb. 3) primär selbstständig überprüfen und auch veranlassen.

      Bei zusätzlichem medizinischen Informationsbedarf nehmen die Schaden-Mitarbeiter/-innen der Suva – je nach Fallverlauf – Kontakt mit der Versicherungsmedizin der Suva auf, um abzuklären, ob und welche ambulanten oder stationären Rehabilitationsmassnahmen den Heilverlauf günstig beeinflussen könnten. Im Rahmen einer strategischen Fallberatung erörtern dann Versicherungsmedizin und Schadenspezialisten gemeinsam, ob gegebenenfalls eine ambulante oder eine stationäre Rehabilitations-behandlung oder aber ein gezieltes Assessment (z. B. EFL- oder HWS- Assessment) hilfreich sein kann, um in der medizinischen Behandlung und/oder der versicherungs-medizinischen Beurteilung oder der beruflichen Wiedereingliederung voranzukommen.

      Parallel dazu können die Versicherungsmedizinerinnen und -mediziner zum gegebenen Zeitpunkt auch Kontakt mit den Leistungserbringern (Haus-, Fach- und Spitalärztinnen und -ärzte) aufnehmen, um den Fall (meist komplexe Einzelfälle) bevorzugt gemeinsam zu besprechen und das Rehabilitationspotenzial gemeinsam zu überprüfen. Die Versicherungsmedizinerinnen und -mediziner der Suva unterstützen hierbei in ihrem jeweiligen Fachgebiet als neutrale medizinische Beratung die Schadenabwicklung der Suva, die externen Leistungserbringern und die versicherte Person.

      Zur Überprüfung der Indikation für eine rehabilitative Massnahme hat die Suva einen entsprechenden Kriterienkatalog (siehe Abb. 3) erarbeitet, um die Notwendigkeit einer solchen Massnahme seitens der Fallführung wie auch seitens der Versicherungsmedizin besser ableiten zu können.

      Hierbei wird der Rehabedarf aufgrund eines multidimensionalen Assessments beurteilt. Berücksichtigt werden medizinische, berufliche und soziale Kriterien im Sinne einer ganzheitlichen rehabilitativen Betrachtungsweise nach dem bio-psycho-sozialen Modell gemäss ICF-Klassifikation (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit). Je mehr Kriterien mit «Ja» erfüllt sind, desto höher ist der Rehabilitations- bedarf. Mit Hilfe des Kriterienkatalogs wird die Indikation zur Rehabilitation im Einzelfall seitens der Fallführung in der Schadenabteilung der Suva geprüft und mit der verunfallten Person, den Ärzten und Ärztinnen, anderen Fachpersonen und bei Bedarf mit der Versicherungsmedizinerin oder dem Versicherungsmediziner abgestimmt. 

      Tabelle1.png

      Abb. 3: Suva - Kriterien für die Indikation zur Rehabilitation

      Im Fall der 60-jährigen Versicherten wurde schnell klar, dass aufgrund der Kombinationsverletzung von oberer und unterer Extremität sowie aufgrund der sozialen Situation (alleinstehend, wohnhaft im 2. Stock ohne Lift) eine stationäre Rehamassnahme zielführend und notwendig ist.

      Seitens der Suva erfolgt dann die direkte Zuweisung entweder in die Rehabilitationskliniken der Suva (Rehabilitationsklinik Bellikon RKB oder Clinique Romande de Réadaptation CRR), die hierfür bestens spezialisiert sind, oder in andere wohnortnahe Rehabilitations-
      einrichtungen. Die Wünsche der Versicherten werden hierbei entsprechend berücksichtigt. Im vorliegenden Fall wäre aufgrund des Verletzungsmusters weder eine tagesstationäre noch eine ambulante Rehabilitation ausreichend, um die Versicherte angemessen zu versorgen. 

      Fazit im vorliegenden Fall

      In aller Regel stellen Kombinationsverletzungen von oberer und unterer Extremität in vielerlei Hinsicht eine besonders grosse Herausforderung in der Rehabilitation dar: so ist der initiale Bewegungsradius massiv eingeschränkt, ebenso die Selbstständigkeit bei allen täglichen Verrichtungen hinsichtlich Nahrungsbeschaffung, -zubereitung und -aufnahme, Körperhygiene und dergleichen mehr, woraus ein initial hoher Unterstützungsbedarf resultiert.

      Dieser ist in einem solchen Fall meist nur in Form einer stationären Rehabilitations-
      massnahme sinnvoll zu erbringen, sofern auf keine pflegenden Angehörigen zurückgegriffen werden kann.

      In unserem Beispiel gelang nach Durchführung einer stationären Rehabilitations-massnahme schlussendlich eine ausreichende bio-psycho-sozialen Stabilisierung, sodass die Versicherte nach erreichter Vollbelastung des rechten Fusses und einer guten Funktion im betroffenen gegenseitigen linken Handgelenk wieder selbstständig in ihre Wohnung zurückkehren konnte. 

      Ambulante und stationäre Rehamassnahme

      Doch auch komplexe Monotraumata, beispielsweise ein Status nach stark schmerzhafter Kniegelenkluxation, können einen rehabilitativen Aufenthalt erfordern.

      Abhängig vom Alter und von der Gesamtsituation der versicherten Person sind hier Rehamassnahmen im ambulanten Setting im Sinne einer ambulanten ganzheitlichen Versorgung gemäss dem rehabilitativen Grundsatz «ambulant vor stationär» zu überprüfen.

      Hierbei ist zu beachten, dass eine ambulante ganzheitliche Versorgung in einer Rehabilitationsklinik sich in aller Regel in qualitativer, wie auch in quantitativer Hinsicht von einer ambulanten Rehabilitation in einem Physiotherapiezentrum deutlich unterscheidet.

      Eine stationäre Behandlung ist dann erforderlich, wenn:

      • Spitalbedürftigkeit aus medizinischer Sicht gegeben ist: z. B. Suizidgefährdung
      • Intensive Pflege erforderlich ist
      • Kein wohnortsnahes ambulantes/teilstationäres Rehazentrum vorhanden ist
      • Tagesstruktur bei Suchtproblematik erforderlich ist
      • Entlassung aus dem Akutspital bei noch nicht vorhandener Rehafähigkeit (Übergangslösung) ansteht
      • Psychische Stabilität für ambulantes Setting nicht ausreichend ist
      • Keine ausreichende Mobilität für eine ambulante Behandlung gegeben ist
      • Notwendigkeit einer einmal täglich stattfindenden fachärztlichen Visite besteht
      • Keine stabile Schmerzsituation vorliegt
      • Eine schwierige Wohnsituation (z. B. Wohnung im 4. Stock ohne Lift) besteht
      • Das soziale Umfeld (z. B. alleinstehend) eine ambulante Rehabilitation verunmöglicht

      Werden ein oder mehrere Kriterien der oben aufgeführten Rehasetting-Massnahmen als erfüllt angesehen, so ist eine ambulante Versorgung meist nicht ausreichend und es muss ein stationäres Rehasetting in Betracht gezogen werden. In allen anderen Fällen ist einer ambulanten und – sofern möglich - wohnortnahen Rehabilitation der Vorzug zu geben. 

      Neben dem ambulanten und dem stationären Rehabilitationssetting werden seitens der Rehakliniken der Suva zusätzlich die Tagesrehabilitation angeboten. Die Tagesrehabilitation bietet eine intensivierte ambulante Rehabilitation an, verbunden mit der Möglichkeit zur Übernachtung auf dem Klinikgelände.

      Sie richtet sich an Patienten mit meist muskuloskelettaler oder neurologischer Problematik. Neben der Beseitigung und/oder der Verbesserung muskulärer oder neurologischer Rehabilitationsdefizite ist dabei die berufliche Reintegration das Kernziel. Daher zielt das Rehabilitationsprogramm der Tagesrehabilitation speziell auf das Wiedererlangen von Fähigkeiten für den Arbeitsalltag und eine erfolgreiche berufliche Wiedereingliederung ab. Die Patienten profitieren in diesem Bereich insbesondere von arbeitsbezogenem Aufbau- sowie Arbeitssimulationstraining sowie einer Klärung der beruflichen Perspektiven.

      Voraussetzung ist, dass die Versicherten keine pflegerischen Leistungen mehr benötigen und im Prinzip die Kriterien für eine ambulante Rehabilitation erfüllen, jedoch beispielsweise eine erweiterte Anfahrt haben, welche eine rein ambulante Rehabilitation in den Suva-Kliniken verunmöglichen würde.

      Die Rehabilitation erfolgt hierbei – unabhängig von ihrer ambulanten, tagesstationären oder stationären Rehaform - nach einem ganzheitlichen medizinischen Behandlungskonzept gemäss der oben bereits erwähnten ICF-Klassifikation (siehe Abbildung 4). Hierbei wird die Funktionsfähigkeit der Person vor ihrem gesamten Lebenshintergrund betrachtet.

      Der ICF liegt das biopsychosoziale Krankheitsmodell zugrunde, nach dem die Funktionsfähigkeit eines Menschen grundsätzlich als Interaktion zwischen Gesundheitsproblem und (umwelt- und personenbezogenen) Kontextfaktoren zu sehen ist. Veränderungen einer dieser Einflussgrössen haben stets Auswirkungen auf das gesamte System der verunfallten Person. 

      Abb 4.png

      Abbildung 4: Bio-psycho-soziales Modell
      Quelle: DIMDI (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information) (2005). ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Köln: MMI, Neu-Isenburg.

      Zusammenfassend sind daher sowohl ambulante als auch tagesstationäre und stationäre Rehabilitationsmassnahmen inklusive ergänzender rehabilitativer Assessments ein nicht wegzudenkende Arbeitsinstrumente der Versicherungsmedizin in der Zusammenarbeit mit dem Schadenmanagement der Suva. Sie liefern neben der Beseitigung und/oder der Verbesserung von Rehabilitationsdefiziten aufgrund ihrer durchgeführten objektivierbaren Assessments einen wichtigen und entscheidenden Beitrag für die angemessene versicherungsmedizinische Beurteilung von verunfallten Menschen. 

      Korrespondenzadresse

      Dr. med. Joachim Schuchert
      Suva Versicherungsmedizin

      Finden Sie diese Seite hilfreich?