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28. Juni 2024 | von Regina Kunz, Holger Schmidt

Cochrane Corner - CRPS: Viele Therapieansätze, wenig Evidenz

Das CRPS ist eine invalidisierende Schmerzerkrankung mit unvollständig geklärter Pathophysiologie. Zahlreiche, sehr heterogene Behandlungsansätze stehen zur Verfügung. Ein aktueller Cochrane Review prüft Qualität und Wirksamkeit der Evidenz.

Inhalt

      Prof. Dr. Regina Kunz, Suva Versicherungsmedizin
      Dr. Holger Schmidt, Suva Versicherungsmedizin

      Der Fall und die PICO-Frage

      Die Versicherungsärztin der Suva, eine Neurologin, untersucht Frau S., eine 44-jährige Spitex-Mitarbeiterin, im Rahmen einer versicherungsmedizinischen Beurteilung des langwierigen Verlaufs einer unkomplizierten Radiusfraktur nach einem Sturz vom Fahrrad. Zur Schmerzstillung waren initial NSAID verordnet worden. Da eine Besserung ausblieb, folgten nach drei Wochen eine Umstellung auf Opiate und zusätzlich Physiotherapie wegen der Handschwellung, die schmerzbedingt wieder abgesetzt wurde. Als nach zehn Wochen eine Rückkehr an den Arbeitsplatz noch immer nicht absehbar ist, bittet die Arbeitsgeberin um eine versicherungsmedizinische Untersuchung.    

      Die Ärztin der Suva stellt bei der Konsultation (12 Wochen nach Unfall) schnell die Verdachtsdiagnose «komplexes regionales Schmerzsyndrom» (CRPS) und nach Ausschluss der wichtigsten Differentialdiagnosen wie Neuropathie, ossäre/mechanische Ursachen, Infektion/Entzündung oder psychiatrische Ursache sowie dem Vorliegen aller vier Budapest-Kriterien verbleibt mit hoher Wahrscheinlichkeit ein CRPS mit 14 von 16 erreichbaren Punkten des CRPS Severity Scores (CSS), also mit schwerer klinischer Manifestation.  

      Da in der letzten Fortbildung ein neuer Cochrane-Review zur Behandlung von CRPS erwähnt worden war, macht sich die Ärztin mit der aktuellen Datenlage vertraut, um fundierte therapeutische Empfehlungen abgeben zu können. Ihre Frage lautet: Welche evidenzbasierten Massnahmen führen bei einer Fraktur der distalen oberen Extremität mit CRPS in der Frühphase zu Schmerzreduktion und verhindern mittel- und langfristig bleibende Funktionseinschränkungen und Behinderung? 

      Das Krankheitsbild

      Das CRPS gehört zu den chronischen invalidisierenden Schmerzerkrankungen und tritt typischerweise an distalen Extremitäten nach Trauma oder postoperativ auf. Leitsymptom sind im Vergleich zum typischen Schmerzverlauf nach ähnlichen Verletzungen unverhältnismässig starke und anhaltende Schmerzen, begleitet von deutlichen autonomen und entzündlichen Veränderungen. Zu weiteren typischen Manifestationen zählen Empfindungsstörungen, Temperaturveränderungen, abnormes Schwitzen, trophische Veränderungen an Haut und Nägeln, Schwellungen und Ödeme sowie zunehmende Bewegungseinschränkung an den distalen Gelenken. Die pathophysiologischen Mechanismen sind komplex und nur unvollständig geklärt. Der derzeitige Diagnosestandard beruht auf den «Budapest Kriterien» sowie dem Ausschluss anderer Krankheiten mit ähnlichen Beschwerden. Es gibt keine apparative Diagnostik, die ein CRPS beweist. Trotz der Vielzahl von Massnahmen, die zur Behandlung empfohlen und eingesetzt werden, fehlt bis heute ein Konsens über die optimale Therapie.  

      Die Evidenz

      Die Versicherungsärztin wird in der Cochrane Library fündig. Die Cochrane Library ist die Datenbank der Cochrane Collaboration mit fast 10’000 publizierten Cochrane-Reviews. Der Titel des gesuchten Reviews lautet: Interventions for treating pain and disability in adults with complex regional pain syndrome – an overview of systematic reviews, Ferraro et al., Cochrane Database of Systematic Reviews 2023. www.cochranelibrary.com

      Ein solcher Overview wird erstellt, wenn eine Anzahl von systematischen Reviews durchgeführt sind und man die Ergebnisse in einem Bericht zusammenfassen will. Ziel eines «Review of Reviews» ist eine systematische und kritische Überprüfung der Evidenz aller Behandlungen für CRPS, auf der Grundlage von Cochrane-Reviews und Nicht-Cochrane-Reviews. Bewertet wurden Wirksamkeit, Nutzen und Sicherheit von Massnahmen zur Reduzierung von Schmerzen, Behinderung oder beidem bei Erwachsenen mit CRPS.  

      In sieben Datenbanken (bis 10/2022) wurden Cochrane- und Nicht-Cochrane-Reviews aus randomisiert kontrollierten Studien gesucht, die Massnahmen bei CRPS mit den Endpunkten Schmerzkontrolle und Vermeidung von Behinderung prüften. Die Autoren beurteilten zu zweit und unabhängig voneinander die Eignung der Studien, extrahierten die Daten und bewerteten die Qualität der Übersichtsarbeiten sowie die Robustheit der Evidenz anhand der AMSTAR-2- beziehungsweis GRADE-Tools. 

      Die Ergebnisse

      Der aktuelle Overview enthält fünf Cochrane- und zwölf Nicht-Cochrane-Reviews mit der Evidenzlage für ein breites Spektrum von Behandlungen, darunter Arzneimittel, chirurgische Verfahren, Rehabilitation sowie komplementäre/alternative Therapien. Für die allermeisten Massnahmen fanden sich nur wenige publizierte Studien, in der Regel mit niedriger oder sehr niedriger Studienqualität. Die wichtigsten Ergebnisse lauten wie folgt:   

      • Bisphosphonate (Medikamente zur Verlangsamung des Knochenabbaus) können im Vergleich zu Placebo die Schmerzintensität kurz nach Behandlungsbeginn verringern (⊗⊗◯◯). Sie sind wahrscheinlich mit verschiedenen Nebenwirkungen verbunden (⊗⊗⊗◯).  
      • Verglichen mit Placebobehandlung führt die Blockade des sympathischen Nervensystems mit einem Anästhetikum wahrscheinlich nicht zu einer Verringerung der Schmerzintensität (⊗⊗⊗◯).  
      • Möglicherweise gibt es zwischen Dimethylsulfoxid- (DMSO-)Creme und oralem N-Acetylcystein keinen Unterschied in der Schmerzreduktion. Dabei ist unklar, ob die jeweiligen Behandlungen überhaupt wirken (⊗⊗◯◯).  
      • Die Brachialplexusblockade (eine Form von Nervenblockade) kann die Schmerzintensität stärker reduzieren als die sogenannte Bupivacain-Stellatumblockade (⊗⊗◯◯).  

      Für die meisten der häufiger verwendeten medikamentösen, chirurgischen, rehabilitativen und psychologischen Behandlungen bei CRPS fanden sich nur sehr minderwertige oder aber gar keine Belege in den Reviews. Daher können die Autoren nicht mit Sicherheit sagen, welche Auswirkungen diese Behandlungen auf Schmerzen und Behinderung bei CRPS haben. 

      Robustheit der Evidenz (Certainty of evidence) 

      Symbole von ⊗⊗⊗⊗ bis ⊗◯◯◯ beschreiben, wie sicher die Autoren sind, dass der Effekt, der in den Studien berichtet wird, dem wahren Wert entspricht, also «stimmt». Das bedeutet, der beobachtete Effekt des Reviews liegt nahe bei dem wahren Effekt. Weitere Informationen zu den Symbolen und ihrer Bedeutung, siehe unten. 

      Tabelle: Behandlungsmassnahmen mit meist sehr geringer oder fehlender Evidenz, die bei CRPS zum Einsatz kommen (Tabelle enthält auch die oben aufgeführten Massnahmen).

      Tabelle: Behandlungsmassnahmen

      Umsetzung der Ergebnisse

      Das Management  
      Die Durchführung einer evidenzbasierten Behandlung von CRPS stellt klinisch tätige Personen vor eine grosse Herausforderung, da nur wenige Massnahmen in randomisierten Studien untersucht wurden. Die meisten von ihnen haben keinen Nutzen gezeigt (siehe Tabelle). Viele Studien waren zu klein oder die Methodik war nicht gut genug, um eine Wirkung sicher auszuschliessen. In Ermangelung von Belegen mit mittlerer oder hoher Sicherheit zugunsten oder zum Ausschluss der Wirksamkeit einer Massnahme lässt sich die klinische Behandlung am besten steuern, wenn man sich am Risiko behandlungsbedingter Wirkung, am Potenzial für Wechselwirkungen zwischen den Medikamenten, an möglichen Komorbiditäten, an den Präferenzen der Patientinnen und Patienten sowie an den finanziellen Aufwendungen orientiert. Im Einklang mit den methodischen Leitlinien für seltene Krankheiten wird die Extrapolation von Daten aus anderen chronischen Schmerzzuständen – wie etwa neuropathische Schmerzen – aufgrund der Ähnlichkeit der Symptome manchmal als angemessen erachtet.  

      Das Royal College of Physicians (RCP) in Grossbritannien hat eine Leitlinie für die Behandlung von CRPS erstellt, die bisher als einzige verfügbare hochwertige Leitlinie gilt. Die evidenz- und konsensbasierten RCP-Leitlinien empfehlen einen integrierten, individuell zugeschnittenen, multidisziplinären Ansatz, der auf vier Säulen der Versorgung beruht, wobei jede die gleiche Bedeutung hat: Aufklärung der Patientinnen und Patienten, Schmerz-linderung (pharmakologisch und interventionell), körperliche Rehabilitation und psychologische Massnahmen.  

      Das weitere Vorgehen

      Die Versicherungsärztin fühlt sich in ihrem bisherigen Vorgehen bestätigt. In diesem Sinne berät sie Frau S. und informiert die Fallführung der Suva. Diese leitet die Einschätzungen und Empfehlungen an den behandelnden Arzt weiter und meldet der Arbeitgeberin die weiter bestehende Arbeitsunfähigkeit von Frau S., deren Dauer zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar ist und die im weiteren Verlauf regelmässig überprüft werden soll. 

      Terminologie «Robustheit der Evidenz» (Lietz M 2020)

      Die Bewertung «Robustheit der Evidenz» wurde durch die Autorengruppe durchgeführt. 
      Was bedeutet «Robustheit der Evidenz»?  

      ⊗⊗⊗⊗ Hoher Grad an Robustheit 

      Die Autoren sind sich sehr sicher, dass der wahre Effekt nahe bei dem beobachteten Effekt liegt. 

      ⊗⊗⊗◯ Mittelgradige Robustheit 

      Die Autoren haben mässig viel Vertrauen in den beobachteten Effekt: Der wahre Effekt ist wahrscheinlich nahe beim beobachteten Effekt, aber es besteht die Möglichkeit, dass er substanziell verschieden ist. 

      ⊗⊗◯◯ Niedriger Grad an Robustheit 

      Das Vertrauen der Autoren in den beobachteten Effekt ist begrenzt: Der wahre Effekt kann sich durchaus substanziell vom beobachteten Effekt unterscheiden. 

      ⊗◯◯◯ Sehr niedriger Grad an Robustheit 

      Die Autoren haben nur sehr wenig Vertrauen in den beobachteten Effekt: Der wahre Effekt unterscheidet sich wahrscheinlich substanziell vom beobachteten Effekt. 

      Korrespondenzadresse

      Prof. Dr. Regina Kunz
      Suva Versicherungsmedizin
      Fluhmattstrasse 1
      6001 Luzern

      Literaturverzeichnis

      1. Ferraro, M.C., Cashin, A.G., Wand, B.M., Smart K.M., Berryman, C., Marston, L., Moseley, G.L., McAuley, J.H., O'Connell, N.E. Interventions for treating pain and disability in adults with complex regional pain syndrome – an overview of systematic reviews. Cochrane Database of Systematic Reviews 2023, Issue 6. Art. No.: CD009416. DOI: 10.1002/14651858.CD009416.pub3. 
      2. Ferraro, M.C., O'Connell, N.E., Sommer, C., Goebel, A., Bultitude, J.H., Cashin, A.G., Moseley, G.L., McAuley, J.H., Complex regional pain syndrome: advances in epidemiology, pathophysiology, diagnosis, and treatment. Lancet Neurol 2024; 23: 522–33.  
      3. Royal College of Physicians. London. Complex regional pain syndrome in adults (2nd edition). 2018. https://www.rcp.ac.uk/improving-care/resources/complex-regional-pain-syndrome-in-adults-2nd-edition/
      4. Harnik MA, Streitberger K, Brunner F, Hanusch KU, Reisig F., Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) – Teil 1 . Swiss Medical Forum. 2021; 21(13–14): 209–13. 
      5. Harnik MA, Streitberger K, Brunner F, Hanusch KU, Reisig F., Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS) – Teil 2 . Swiss Medical Forum. 2021;21(15-16):245-50. 
      6. Lietz M et al. GRADE: Von der Evidenz zur Empfehlung oder Entscheidung – Entscheidungen zur Kostenerstattung . Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes. 2020; 150–152:134–141. Supplement s2.0-S1865921720300301-mmc2.docx

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