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30. September 2021 | von Anja Meyer

50 Jahre Gehörschadenprävention in der Schweiz

Prävention beruflicher Lärmschädigungen wird von der Suva seit fünfzig Jahren betrieben. Schweizweit sind Audiomobile im Einsatz, auf denen Gehöruntersuchungen, Dämmmessungen von Gehörschutzmitteln und Lärmschutzberatungen stattfinden. Im Wandel der Zeit wurden ehemalige Konzepte modernisiert und der Digitalisierung zugänglich gemacht. Trotz grosser Verbesserungen der technischen und medizinischen Gehörschadenprävention während fünf Jahrzehnten bleibt die Anzahl gemeldeter Fälle von Lärmschädigungen aus verschiedenen Gründen auf hohem Niveau.

Inhalt

      Technisches und Organisatorisches - Audiomobilbetrieb

      Schweizweit werden in 3 Audiomobilen jährlich ca. 25’000 lärmexponierte Beschäftigte untersucht. Die Audiomobile fahren üblicherweise im dreijährigen Turnus bis an alle Landesgrenzen und sind verantwortlich für die Durchführung der Gehörschadenprävention bei den von den Betrieben gemeldeten lärmexponierten Beschäftigten. Das Personal auf den Audiomobilen führt Anamnese, Audiometrie und Beratung unmittelbar vor Ort durch, sodass es praktisch kaum zu Arbeitsausfallzeiten kommt. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Audiomobile sprechen bezogen auf die Anforderungen einer Gehöruntersuchung und -beratung alle Landessprachen, wobei Einzelne infolge ihrer Herkunft zusätzlich zum Beispiel portugiesisch, spanisch und serbokroatisch sprechen. Die Schulung des Audiomobil-Teams erfolgt Suva-intern in Form einer praktischen und theoretischen Ausbildung mit Abschlussprüfung unter arbeitsmedizinischer Supervision eines für die Gehörschadenprophylaxe zuständigen ORL-Arztes. Die Ausbildung zum Audiometristen dauert in der Regel 6 Monate. Dabei lernen die neuen Mitarbeitenden auch, wie ein Lastkraftwagen geführt wird und absolvieren den Führerausweis Klasse C. An dieser Tätigkeit Interessierte kommen aus den verschiedensten Berufen, wie z.B. Automechaniker, Käser, Elektriker, Drucker, Maurer, Koch, Hörgeräteakustiker, Dentalassistent, Coiffeur etc. Da die Audiomobile meist geografisch in grosser Distanz vom Hauptsitz der Suva in Luzern unterwegs sind, ist es Voraussetzung, dass die Beschäftigten werktags bereit sind, wohnortfern und flexibel zu arbeiten, im Hotel zu übernachten und nur an den Wochenenden nach Hause und zu ihren Familien zu kommen. Sie befinden sich im sogenannten Aussendienst und benötigen unter anderem viel psychologisches Geschick im Umgang mit «ihren Untersuchungspersonen» aus den verschiedensten Industrie-Branchen, die oft unter zeitlichem Druck ihren Arbeitsplatz für die Untersuchung verlassen. Die Untersuchungspersonen sind auf Baustellen oft nur schwer abkömmlich, weil der Beton gerade anzieht. Sie arbeiten gesichert an steilen Felshängen in unwegsamem Gelände. Es wird frisches Gemüse angeliefert, das sofort verarbeitet werden muss. Die Mitarbeitenden wissen oft selbst nicht, in welcher Linie der Nahrungsmittelproduktion sie arbeiten und welchen Lärmpegel sie unter Umständen haben. Das Arbeitsgelände liegt weiter vom Audiomobilstandort entfernt als ursprünglich gedacht oder die Verantwortlichen der Firma wollen ein wichtiges neues Projekt umsetzen und die Monate im Voraus geplante Untersuchung des Gehörs der Mitarbeiter «passt» plötzlich nicht mehr. Schichtarbeit erschwert die Hörprüfungen oder verunmöglicht sie oder Mitarbeiter-Einsatzpläne in Betrieben mit Schicht- und Nachtarbeit sind nicht mit einem genügenden Vorlauf bekannt.

      Die Umrüstung von früher bis zu 5 auf 3 Audiomobile erfolgte im Jahr 2018. Die in die Jahre gekommenen Fahrzeuge (Abb. 1) waren anfällig für Reparaturen geworden. Elektronik, Ausstattung und Vernetzung mit dem Hauptsitz der Suva waren überholt, Fahrzeug-Ersatzteile nicht mehr lieferbar, die Fahrzeuge verbrauchten auf 100 km enorme Mengen Dieselkraftstoff und waren im Unterhalt nicht mehr rentabel. Auf manchen Alpenpässen und etlichen Nebenstrassen im Gebirge entstanden Schäden an den Karosserien, die immer wieder ausgebessert werden mussten.

      Das Departement Gesundheitsschutz der Suva entschied sich zur Neuanschaffung von 3 Fahrzeugen (Abb. 2), die nun sämtliche Voraussetzungen für einen modernen Betrieb der Gehörschadenprävention bieten, aus denen eine elektronische Datenübermittlung an den Hauptsitz der Suva täglich möglich ist und in denen neben 2 parallel nebeneinander laufenden Gehöruntersuchungen in lärmgeschützten Hörkabinen auch ein kleines Büro im Führerstand vorhanden ist, aus dem heraus die Kommunikation mit den Betrieben problemlos auf elektronischem Wege und zeitnah möglich ist.

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      Abb. 1 Prototyp 1971
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      Abb. 2 Audiomobil 2018

      Die Equipe eines Audiomobils besteht aus drei bis vier Personen, die das Fahrzeug führen und bewegen, am neuen Standort in Betrieb nehmen, im Wechsel audiometrieren, administrative Aufgaben übernehmen und für Installation und Ablauf an den Standorten verantwortlich sind und es schliesslich auch am Ende der Arbeitswoche grundreinigen. Das Erscheinungsbild der Audiomobile und das Outfit der Teams wurden der Corporate Identity der Suva optisch angepasst. In der Anfangszeit des Audiomobilbetriebes in den 70er Jahren war noch ein ORL-Arzt vor Ort, es wurde analog audiometriert, der Befund auf einem Formular festgehalten und kommentiert sowie die Papierakten archiviert (Lit. 1). Sicherlich ist diese Vorgehensweise heute nicht mehr zeitgemäss und im digitalen Zeitalter nicht mehr so personalintensiv wie früher. Mit Einbruch der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 standen die Audiomobile während 3 Monaten still, bis die Vorgaben des Bundes und entsprechende Schutzkonzepte die erfolgreiche Wiederaufnahme des Betriebes erlaubten. Die aufgebotenen Personen werden vor der Gehöruntersuchung im Eingangsbereich des Fahrzeuges mit einer digitalen Präsentation auf die korrekte Verwendung verschiedener Gehörschutzmittel aufmerksam gemacht und «sehen», wie sich eine Lärmschwerhörigkeit später bemerkbar machen kann. Die dargestellten Personen wirken nicht werbewirksam, sondern Betrachtende haben das Gefühl, es handle sich um einen Arbeitskollegen – eine moderne Visualisierung ohne Distanz und auf Augenhöhe.

      Der Verbrauch der heutigen Fahrzeuge Typ Variomobil auf Basis eines MAN-Chassis, Abgasnorm Euro 6 beträgt pro 100 km 18 l Dieselkraftstoff bei einem Gesamtgewicht von 13,5 t. Die Umstellung auf batteriebetriebene Elektrofahrzeuge war aufgrund des Einsatzgebietes in der gesamten Schweiz inklusive Randregionen nicht praktikabel. Während der Heimphase stehen die Audiomobile in einer Garage in einem Luzerner Quartier, wo auch Wartungsarbeiten durchgeführt werden können. Es kommt zu einem «Stillstand» während 4 Wochen in den Sommerferien, ansonsten findet ein ganzjähriger Auftrag bei jedem Wetter, in jeder Jahreszeit und in jeder Region der Schweiz statt. Alle Kantone bzw. Suva-Agenturgebiete werden in einem festen Rhythmus angefahren.

      Voraussetzung für die korrekte Erfassung aller lärmexponierten Personen ist die Übermittlung der Personendaten durch die Betriebe an die Einsatzleitung der Suva Gehörschadenprävention. Die Planung mit den Betrieben, Vereinbarung der Besuchstermine, Auswahl der Audiomobilstandorte und Versand der Aufgebote erfordert eine Vorlaufzeit von 8 bis 10 Monaten bis zur definitiven Gehöruntersuchung. Im Vorfeld werden vom Bereich «Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz Akustik» allgemeine und individuelle Lärmtabellen regelmässig ausgearbeitet und überprüft, das heisst, Fachkräfte der Arbeitshygiene und Arbeitssicherheit besuchen in regelmässigen Abständen die Betriebe und überprüfen technische Änderungen im Produktionsablauf und die aktuellen Lärmemissionen, die sich aufgrund von Verbesserungen im Schallschutz und zunehmender Reduktion der Lärmemission der Maschinen laufend verändern. Dabei kann es vorkommen, dass ehemals lärmexponierte Beschäftigte aufgrund technischer Optimierung am Arbeitsplatz nicht mehr einem Lärmpegel von > 85 dB(A) ausgesetzt sind und daher auch nicht mehr im Audiomobil untersucht werden. Der Bereich «Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz Akustik» übernimmt auch die zuweilen erforderlichen individuellen Gehörschutzberatungen bei mit Hörgeräten versorgten oder stark lärmvulnerablen Personen, die weiterhin lärmexponiert arbeiten und erproben mit diesen Beschäftigten diverse mit Hörgeräten harmonierende Gehörschutzmittel, damit die Betroffenen nicht aus Gründen ihres schlechten Gehörs den Arbeitsplatz verlieren. Hierzu gehören elektronisch gesteuerte Aktiv-Gehörschutzkapseln oder spezielle am Schutzhelm getragene oder einsetzbare Gehörschützer. In der Schweiz ist der sogenannte «Hörluchs» noch nicht erhältlich, der Hörverstärkung und Gehörschutz bei Schwerhörigen in lauter Arbeitsumgebung in einem Gerät vereint. Möchten sich Betriebe oder Sicherheitsfachleute zum Stichwort «Gehörschutz» (Lit. 4, 5, 6, 8) informieren, finden sie auf der Suva Homepage 282 Resultate.

      Strukturelle Änderungen seit 2018

      Seit 2018 wird ein verstärkter Fokus auf die Prävention anstelle von routinemässiger Dokumentation gelegt und im Bedarfsfall eine zusätzliche Dämmmessung mit dem mitgebrachten Gehörschutz durchgeführt (Tab. 1). Es werden im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge der Suva alle lärmexponierten Personen bis zum 40. Lebensjahr (Lit. 7) und neu eintretende Beschäftigte über dieses Alter hinaus untersucht und beraten, denn man geht aufgrund wissenschaftlicher Belege davon aus, dass sich berufslärmbedingte Hörschäden vor allem im jungen Alter entwickeln und das Gehör von jungen Exponierten empfindlicher ist als das älterer Menschen. Ausgenommen von dieser Regelung sind Personen im Gleisverkehr des Bahnschienennetzes, die aus Sicherheitsgründen bis zum Ausscheiden aus dem Berufsleben über ein sogenanntes Mindesthörvermögen verfügen müssen und daher im Audiomobil bis zu ihrer Pensionierung aufgeboten werden.

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      So werden heute bei allen pro Jahr untersuchten ca. 25’000 Personen vermehrt Beratungen beziehungsweise eine Sensibilisierung durchgeführt, wie sie sich individuell und optimal vor Lärm schützen können. Das Ergebnis der Gehörprüfung wird den Beschäftigten im Vergleich mit vorherigen Ergebnissen und der gültigen Altersnormkurve grafisch dargestellt, als Ausdruck ausgehändigt und kommentiert, ob das Gehör stabil ist oder ob sich eine Verschlechterung ergeben hat, die beobachtet oder weiter abgeklärt werden muss. Zusätzlich findet eine individuelle Gehörschutzmittelberatung statt. Die Untersuchung wird mit einer Präventionsempfehlung beendet (Abb. 3 und 4).

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      Abb. 3 Audiomobiluntersuchung früher
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      Abb. 4 Audiomobiluntersuchung heute

      Im Gegensatz zum europäischen Ausland werden im Schweizer Audiomobil ausschliesslich Untersuchungen des Gehörs vorgenommen, keine Lungenfunktionsprüfungen, EKG, Laboruntersuchungen oder Sehprüfungen etc. im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge. Solche Abklärungen finden an spezialisierten Zentren oder durch Betriebsmediziner statt.

      Eine grundlegende Innovation im Audiomobilbetrieb war im Jahr 2011 die Einführung der Video-Otoskopie vor Ort. Befunde des äusseren und mittleren Ohres infolge auffälliger Audiometrie können seither durch eine vom Audiometristen durchgeführte Video-Otoskopie nach Einverständnis der Untersuchungsperson visualisiert, archiviert und elektronisch zur Triagierung durch ORL-Fachärztinnen und Fachärzte der Suva Arbeitsmedizin übermittelt werden. Bei der Otoskopie (Abb. 5–7) werden Befunde erhoben, die möglicherweise auf eine berufsfremde Erkrankung des Mittelohres hinweisen, die dann weiter extern oder intern abgeklärt oder gegebenenfalls zulasten der Krankenkasse der Versicherten behandelt werden kann, im häufigsten Fall zum Beispiel Cerumen obturans oder Entzündungen des äusseren Ohres, Trommelfelldefekte, Exostosen oder Fehlbildungen des äusseren Ohres, Cholesteatomverdacht, Otorrhoe, Sklerosierungen oder Einziehungen des Trommelfells, Erkrankungen, die letztlich eine Erklärung für den Hörschaden bieten können.

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      Abb. 5 Trommelfelldefekt
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      Abb. 6 Sandstrahler-Befund
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      Abb. 7 Insekt im Gehörgang

      Oft werden bei der Video-Otoskopie keine besonderen Pathologien entdeckt, so dass die Ursache der Hörstörung auf andere Art und Weise fachärztlich abgeklärt werden muss. Die Audiometristen werden in der Handhabung und im Umgang mit dem Otoskop eingehend durch ORL-Fachärzte beziehungsweise den/die Beauftragte für die Gehörschadenprävention der Suva geschult und in der Handhabung geprüft. Neue Mitarbeitende im Audiomobil legen mehrere Prüfungen über ihr administrativ und praktisch gewonnenes Wissen und Können sowie eine medizinische Grundausbildung ab.

      Hilfreich ist das Vorliegen von Audiomobil-Audiogrammen bei Unfalldossiers der Suva wie akustischen Traumata oder anderen Schädeltraumata, da hier auf prätraumatische Hörtests zurückgegriffen und die Unfallkausalität valide beurteilt werden kann. Die Registrierung aller verfügbaren Gehördaten eines Individuums von extern und intern wird von spezialisierten Sachbearbeitern zuverlässig im Vorfeld von versicherungsmedizinischen Kausalitätsbeurteilungen erledigt. Sie sind auch für die Vorbereitung der wöchentlichen fachärztlichen Triage der im Audiomobil gewonnenen Daten verantwortlich sowie für die Aufbereitung von Gehördaten in Schadenfällen der Militärversicherung und bei Beratung der Dossiers von Fremdversicherungen.

      Die Entwicklung des Audiomobilbetriebes ist einem stetigen Wandel unterlegen. Die Anzahl der untersuchten Personen hat sich durch fortschreitende technische Entwicklung und Reduktion der betrieblichen Lärmemissionen verringert. Im Laufe der Jahre hat sich herauskristallisiert, dass ein Schwergewicht der Prävention auf junge Arbeitnehmende zumindest teilweise sinnvoller ist als eine turnusmässige Kontrolle aller Lärmexponierten bis an das Lebensende, denn die altersbedingte Zunahme des Hörverlustes addiert sich «unbemerkt» zum Lärmschaden und verfälscht die reine Lärmschwerhörigkeit. Die Lärmvulnerabilität eines jungen Menschen ist wissenschaftlich belegt deutlich höher als die des älteren Menschen.

      Die Berufskrankheit Lärm

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      Berufskrankheiten Total.ai

      Trotz grossen Erfolgen in der Gehörschadenprävention macht der Anteil der Berufslärmschwerhörigkeiten an der Gesamtanzahl der Berufskrankheiten in der Schweiz seit Jahren den grössten und einen stets grösser werdenden Anteil aus. Neben der Lärmexposition (Abb. 10) wird die Anzahl der Fälle von Berufslärmschwerhörigkeiten auch vom konsequenten Meldeverhalten beeinflusst.

      Bei anerkannter Berufslärmschwerhörigkeit beteiligt sich die Unfallversicherung anteilmässig an den Kosten für eine Hörgeräteversorgung. Streng genommen qualifiziert ein Gehörschaden erst ab einem Hörverlust von 35 % je Ohr bei einer symmetrischen beidseitigen Schwerhörigkeit als «erheblicher» Hörschaden zur Anerkennung als Berufskrankheit. Der gesamte monaurale prozentuale Hörverlust (CPT-AMA-Tabelle) (Lit. 9) errechnet sich durch Addition der vier Schwellenwerte in den Frequenzen 500 Hz, 1 kHz, 2 kHz und 4 kHz (Abb. 11).

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      Abb. 10 Typische Lärmanamnese eines 59-Jährigen: 32 Berufsjahre mit Lärmpegel 100 dB(A)

      Es werden jedoch nur etwa 40 % aller bewilligten Hörgeräte zulasten einer ausgewiesenen, anerkannten und erheblichen Berufslärmschwerhörigkeit vergütet. Bei nicht erheblichem Hörverlust, aber langjährigem Berufslärm beteiligt sich die Suva dennoch bei einem lärmtypischen Hörschaden (Abb. 11) an den Kosten für eine apparative Versorgung auf freiwilliger Basis und dies auch bei einer Wiederversorgung mit Hörgeräten nach frühestens sechs Jahren.

      Bei der Suva werden auch die nicht erheblichen Hörstörungen mit einem Gesamthörverlust von < 70 % nach CPT-AMA als «Berufskrankheit» versicherungstechnisch kodiert, was den hohen und steigenden Anteil der Lärmschwerhörigkeiten am Gesamtanteil der Berufskrankheiten mit erklärt. Diese Vorgehensweise rückt allerdings nominal die «echte» Berufslärmschwerhörigkeit in ein «falsches Licht», denn die tatsächliche Anzahl der anerkannten Berufslärmschwerhörigkeiten ist deutlich geringer als in der Berufskrankheitenstatistik dargestellt. Die Datenerhebung zur abgebildeten Berufskrankheiten-Statistik ist daher nicht unproblematisch.

      An der nach wie vor hohen Bewilligung von Hörgeräten und BK-Anerkennungen aufgrund von beruflichem Lärm lassen sich die Fortschritte der Gehörschadenprävention nicht ablesen. Es steht fest, dass die Akzeptanz, Hörgeräte zu tragen, in der Bevölkerung deutlich gewachsen ist, in der Schweiz tragen knapp 4 % der Bevölkerung Hörgeräte. Bei anerkannter Berufslärmschwerhörigkeit kann es vorkommen, dass die Unfallversicherung die Kosten auch für eine Cochlea-Implantation übernimmt, wenn konventionelle Hörgeräte eine progrediente Ertaubung nicht mehr ausgleichen können.

      Für die Bewilligung von konventionellen Hörgeräten zulasten einer anerkannten Berufslärmschwerhörigkeit ist die Hörgeräteexpertise niedergelassener ORL-Fachärztinnen und -ärzte erforderlich. Mit Einreichung einer ohrenärztlichen Hörgeräteexpertise kommt somit erstmals die Anzeige einer vermuteten Berufslärmschwerhörigkeit zur Anzeige. Ungünstig ist sicher, dass hörgeschädigte Versicherte den Ohrenarzt erst deutlich nach der Pensionierung aufsuchen, wenn es «ohne Hörgerät gar nicht mehr geht» und in diesem Alter die Hörstörung massgeblich durch altersbedingte Einflüsse wie Presbyakusis (Lit. 3) «erheblich» bzw. symptomatisch geworden ist. Wir wissen aus unserer fachärztlichen Triage der Audiomobilbefunde, dass sich unter den jährlich knapp 25’000 untersuchten Personen nur etwa 16 % befinden, die weiter abklärungsbedürftige Schäden des Gehörs zeigen. Nur bei ca. 8 % der erwähnten Gruppe sind diese Schäden durch beruflichen Lärm bedingt, der Rest von 92 % zeigt berufsfremde Erkrankungen am Mittel- oder Innenohr gemäss Beurteilung von Befunden und Audiogrammen durch bei der Suva Arbeitsmedizin tätige ORL-Fachärzte.

      Integritätseinbusse / Nichteignung / bedingte Eignung

      Nur erhebliche berufliche Lärmschädigungen lösen eine Integritätseinbusse aus. Die Schädigung des Gehörs muss hierzu vorwiegend durch berufliche Lärmarbeit in einem UVG-versicherten Betrieb verursacht worden sein. Die Erheblichkeitsgrenze bei binauralem Schaden liegt bei 70 % Hörverlust, wobei Grundlage für die Berechnung des Integritätsschadens das Reintonaudiogramm ist. Der tatsächliche prozentuale Hörverlust wird nach der CPT-AMA-Tabelle (Lit. 9) berechnet. Die Höhe des Integritätsschadens wird aus dem entsprechenden Hörverlust des rechten und linken Ohres ermittelt. Berufsfremde Ursachen der Hörschädigung und die Anzahl der Berufsjahre vor dem 01.01.1984 müssen mit einer annähernd exakten fachärztlichen Einschätzung vom aktuellen Gesamthörverlust subtrahiert werden.

      Die Ausrichtung einer berufslärmbedingten Integritätsentschädigung erfolgt ausschliesslich für Berufsjahre nach dem 01.01.1984 (Einführung UVG). Die nicht erhebliche «Berufslärmschwerhörigkeit» löst keine Integritätsentschädigung aus. Ob eine binaurale Standard-Hörgeräteversorgung (Kostenanteil der Unfallversicherung ca. 2600 CHF) gutgeheissen wird oder eine komplexe Hörgeräteversorgung (ca. 3500 CHF), ergibt sich aus verschiedenen Aspekten der Hörgeräteexpertise (z.B. Hochtonsteilabfall, 50 %-Einsilberverstehen im Sprachaudiogramm < 70 dB, erhebliche Sehbehinderung, zusätzlich invalidisierender Tinnitus etc.). ORL-«Expertisenärzte» müssen eine spezielle Ausbildung, Nachweis einer Expertisentätigkeit an ORL-Spitalabteilungen und verschiedene Aspekte der technischen Ausrüstung wie schalldichte Hörprüfkabine etc. nachweisen und von der audiologischen Kommission der ORL-Fachgesellschaft eine Bewilligung erhalten haben. Diese Experten richten ihre Hörgeräteanträge nicht nur an die Suva, sondern auch an die Invalidenversicherung (IV) und Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), die sich an den Kosten der Hörgeräteversorgung beteiligen, sofern die Ursache der Hörstörung nicht vorwiegend beruflicher Natur ist. Die Kostenbeteiligung an Hörgeräten liegt bei der IV bei derzeit 1650 CHF (plus Batteriekosten pauschal 40 CHF/Jahr) für eine binaurale Versorgung, bei der AHV werden 1237.50 CHF für 2 Hörgeräte vergütet (keine Leistung für Batterien). Für Personen, die bereits vor dem ordentlichen AHV-Alter aufgrund ihres Hörverlustes IV-Leistungen beziehen, gilt die sogenannte Besitzstandswahrung. Diese Personen beziehen weiterhin die Leistungen der IV. Die Unterschiede in der Entschädigungspraxis zwischen IV und UVG-Versicherern haben also Einfluss auf die Inanspruchnahme von Leistungen. Auch militärversicherte Hörschäden werden gemäss UVG vergütet, sofern die Kausalität der Hörstörung auf eine militärversicherte Ursache zurückgeführt werden kann. Die militärversicherte Integritätsentschädigung folgt anderen Regeln und wird als Integritätsschadenrente ausgerichtet.

      Die erhebliche Schädigung des Gehörs durch beruflichen Lärm kann eine sogenannte Nichteignungsverfügung für die ausgeübte Tätigkeit auslösen oder eine bedingte Eignungsverfügung. Die Nichteignung aufgrund nicht ausreichender Hörfähigkeit kann nur dann verfügt werden, wenn die Beschäftigten bei der weiteren Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit einer erheblichen gesundheitlichen Gefährdung ausgesetzt sind. Solche Nichteignungsverfügungen wurden vor Jahrzehnten deutlich häufiger erlassen als heute. Von dieser Massnahme wird heute nur noch in Ausnahmefällen Gebrauch gemacht, da es bekanntermassen schwierig bzw. unmöglich ist, solche Beschäftigte, häufig fortgeschrittenen Alters, an einem nicht lärmexponierten Arbeitsplatz unterzubringen. Eine Arbeitslosigkeit soll durch den Erlass einer Nichteignungsverfügung möglichst nicht forciert werden. Üblicherweise werden heute nur noch Nichteignungsverfügungen bei hochgradiger beruflicher Hörschädigung erlassen, sofern es sich um Personen handelt, die aufgrund ihres stark reduzierten Gehörs einer unmittelbaren Lebensgefahr ausgesetzt sind, zum Beispiel im Gleisverkehr. Es ist wissenschaftlich anerkannt, dass sich eine berufliche Lärmschwerhörigkeit nach Beendigung der Lärmexposition aus beruflichen Gründen nicht weiter verschlechtert.

      Deutlich häufiger ist der Erlass von sogenannten bedingten Eignungsverfügungen, der die weitere Beschäftigung nur unter der verpflichtenden Bedingung des Tragens eines geeigneten Gehörschutzes bei der Arbeit mit einem Pegel > 85 dB (A) erlaubt. Bedingte Eignungsverfügungen für lärmexponierte Personen wurden in den letzten zehn Jahren etwa 200 Mal pro Jahr erlassen, d.h. ein Klientel von etwa 1 % aller untersuchten und noch lärmexponierten Personen erhält infolge auffälliger Audiometrie im Audiomobil und hochgradigem Verdacht auf berufslärmbedingte oder auch BK-fremde Ursachen eine bedingte Eignungsverfügung, um zu verhindern, dass die Schwerhörigkeit sich durch berufliche Einflüsse weiter verschlechtert. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Durchführung des Erlasses zu überwachen.

      Bemerkenswert ist, dass bei 52181 gehörpräventiven Untersuchungen im Jahr 1984 weitere Abklärungen bei externen ORL-Fachärzten und Suva-intern in 1735 Fällen veranlasst wurden (3,3 %), während externe Untersuchungen im Jahr 2019 nur noch in 48 von 23’902 Fällen veranlasst wurden, das ist ein Anteil von 0,2 %. Der Anteil ist deutlich gesunken, da mithilfe der Video-Otoskopie oft eindeutig berufsfremde Gründe erkannt werden können, die nicht zulasten der Unfallversicherung behandlungsbedürftig sind, sondern zulasten der Krankenkasse des Untersuchten. Es erstaunt, dass 1984 in dem grossen Untersuchungsgut nur 5 Integritätsentschädigungen/Jahr wegen Berufslärm ausgerichtet wurden (0,09 ‰), heute sind dies bei anerkannter Berufslärmschwerhörigkeit 323/Jahr (1,35 %). Die Gesamtzahl untersuchter Fälle hat sich seit 1984 bis 2009 um 46 % reduziert, da die Zahl der lärmexponierten Personen durch technische Verbesserungen und Reduktion der Lärmemissionen an den Arbeitsplätzen enorm abgenommen hat, seit 2018 praktisch ausschliesslich Personen nur noch bis zum 40. Lebensjahr untersucht und nicht mehr wie früher während des gesamten Erwerbslebens kontrolliert werden.

      Während die drastisch zurückgehenden externen weiteren Abklärungen von Gehörstörungen sicherlich zu einer nicht geringen Kostenreduktion bei der Unfallversicherung geführt haben und die meisten dieser Abklärungen heute zulasten der Krankenkasse gehen, da sie augenscheinlich berufsfremder Genese sind, ist es andererseits durch deutliche Zunahme von Integritätsentschädigungen infolge erheblicher Hörstörung durch den Beruf zu einer Kostensteigerung bei der Unfallversicherung gekommen, wobei die Summe der ausgerichteten Integritätsentschädigungen für die BK Lärm seitens der Suva einen Betrag von ca. 2,8 Mio. CHF/Jahr ausmacht exklusive der zusätzlichen Kosten für die Hilfsmittel/Hörgeräte.

      Diskussion

      50 Jahre Gehörschadenprävention in der Schweiz im Audiomobil haben zu einer signifikant besseren Tragedisziplin von Gehörschutzmitteln geführt und technische Massnahmen seitens der Betriebe haben infolge Lärmreduktion an Maschinen und Reduktion der Lärmemissionen an den Arbeitsplätzen bewirkt, dass jüngere Arbeitnehmer sich in der Regel von Beginn ihrer lärmigen Tätigkeit an zuverlässig vor einer berufslärmbedingten Schwerhörigkeit schützen. Betroffene sind sensibilisiert und die Betriebe sind in der gesetzlichen Pflicht, die Massnahmen zu überwachen. Ausbilder von Lernenden haben Vorbildfunktion und in Berufsschulen ist das Thema Gehörschutz Bestandteil des Lehrplanes.

      Der Audiomobilbetrieb wurde in den vergangenen fünfzig Jahren stetig angepasst, die gefährdete Klientel wird heute spezifischer ausgewählt, der Audiomobilbetrieb – unter laufendem persönlichen Einsatz von Audiometristen – digitalisiert und auch arbeitsmedizinische Erkenntnisse aus den vergangenen fünf Jahrzehnten haben nachweislich positiv gewirkt, so dass andere Gründe für die heute noch sehr hohe Zahl der Berufslärmschwerhörigkeiten (Lit. 2) verantwortlich gemacht werden müssen, hauptsächlich das Alter der Versicherten bei der ersten Hörgeräteanpassung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dem Gehörschutz als primäre Präventionsmassnahme im Zeitraum der vorliegenden Beobachtung über fünf Jahrzehnte sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde und heute niemand mehr ausgegrenzt oder belächelt wird, wenn er Gehörschutz – so selbstverständlich wie eine andere persönliche Schutzausrüstung – trägt.

      Es ist trotz den Präventionsbemühungen nicht zu erwarten, dass die Zahl der anerkannten Berufslärmschwerhörigkeiten (Abb. 12) und erforderlichen Hörgeräteanpassungen mit einer verkürzten Latenz sinken wird und die Lärmschwerhörigkeit auf einen geringeren Anteil am Gesamtkontingent der Berufskrankheiten signifikant reduziert werden kann. Gründe für die hohe Anzahl der Berufslärmschwerhörigkeiten dürften dem Umstand geschuldet sein, dass die Anerkennung dieser Berufskrankheit mit finanziellen Leistungen verbunden ist. Darüber hinaus ist das Tragen von Hörgeräten heute fast «smart» geworden. Dank der Bluetooth-Technik können Musik und Telefongespräche «direkt im Ohr» gehört werden, Hörapparate sind heute praktisch unsichtbar, recht langlebig und stigmatisieren die schwerhörige Person kosmetisch nicht mehr.

      Unter normalen Umständen wird eine Berufskrankheit während des Arbeitslebens angezeigt, im Falle der Berufslärmschwerhörigkeit liegt der Zeitpunkt der BK-Anerkennung im Durchschnitt bei einem Alter von knapp 65 Jahren (Abb. 13), sodass davon ausgegangen werden muss, dass doch zunehmend altersbedingte Anteile der Hörstörung zur Auslösung einer Berufskrankheit «Lärm» führen, was in der versicherungstechnischen Kodierung der Berufskrankheiten praktisch keine Berücksichtigung findet, jedoch die konsolidierten Ergebnisse und Erfolge der Gehörschadenprävention empfindlich reduziert.

      Abb. 12 Berufliche bedingte Gehörschädigungen.ai

      Abb. 12 Beruflich bedingte Gehörschädigungen

      Abb11 Tonaudiogramm mit Hochtonsteilabfall fr.ai

      Abb. 13 Berufskrankheiten am Gehör

      Die Berufslärmschädigung legt nachhaltig den Grundstein in den ersten Berufsjahren, den «early twenties». Ein subjektiver Leidensdruck fehlt meist noch in der Prophylaxeabklärung im Audiomobil. Auf dem Boden der okkulten Lärmvorschädigung schreitet die Altersschwerhörigkeit früher daher. Meist 40 Jahre später, in der Vorpensionierung der «late fifties and sixties» schlägt diese Berufskrankheit erstmals versicherungstechnisch zu Buche. Der zunehmende Leidensdruck mit beeinträchtigter Sozialkompetenz und «Partyschwerhörigkeit» nach der Pensionierung (sprich Isolation im privaten Umfeld des dritten Lebensabschnittes) führt im heutigen Zeitalter der digitalisierten Kommunikationsgesellschaft zu höheren Ansprüchen bezüglich Technik und Rehabilitation: Digitale technische Fortschritte erlauben heute, leichtgradige Höreinbussen im Hochtonbereich (Konsonantendiskrimination) besser hörprothetisch zu versorgen als vor 30 Jahren. Das Stigma des Hörgeräteträgers ist am Abklingen und so wird die anerkannte Berufslärmschwerhörigkeit weiterhin am Anteil der Berufskrankheiten vermutlich den höchsten Prozentsatz generieren, ohne dass die Gehörschadenprävention versagt oder sich ausserordentlich verdient gemacht hätte.

      Nach wie vor ist es bei der fachärztlichen Beurteilung einer Berufslärmschwerhörigkeit ausgesprochen schwierig bis zuweilen unmöglich, altersbedingte und/oder endogene von berufslärmbedingten Ursachen der Hörstörung zu unterscheiden, wenn keine frühere Audiogramme  bis zur Beendigung der beruflichen Lärmexposition vorliegen. Es sind Überlegungen im Gange, wie diesem Umstand künftig Rechnung getragen werden kann, zum Beispiel mit einer letzten audiometrischen Untersuchung im Audiomobil vor Eintritt in die Rente.

      Trotz grosser Verbesserungen in der Gehörschadenprävention und Behandlungsmöglichkeiten mit modernen Hörgeräten bleibt die Senkung der Anzahl lärmbedingter Berufskrankheiten eine Herausforderung, da die Latenz des Auftretens dieser Berufskrankheit gross ist und nicht zuletzt auch versicherungstechnische finanzielle Aspekte im Raum stehen.

      Korrespondenzadresse

      Dr. med. Anja Meyer
      Fachärztin für Otorhinolaryngologie und Arbeitsmedizin Suva Arbeitsmedizin
      Fluhmattstrasse 1 6002 Luzern

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