Wenn die Arterienwand reisst – wann unfallbedingt?
Mit dem 15. Versicherungsmedizinischen Kolloquium möchten wir einen gesamthaften und aktuellen Überblick über unfallbedingte Arterienverletzungen verschaffen. Äussere Gefässverletzungen werden zumeist ohne Schwierigkeiten rasch erkannt. Dagegen werden innere Gefässverletzungen klinisch und diagnostisch nicht selten erst mit Verspätung gesichert. Klinisch stehen sowohl Aortendissektionen als auch zervikale Arteriendissektionen im Vordergrund.
Inhalt
Schwerpunktthema dieses Kolloquiums sind daher die Dissektionen der hirnversorgenden Arterien, welche aufgrund der potentiell schweren Komplikationen einer Hirnischämie auch in versicherungsmedizinisch-ökonomischer Hinsicht eine grosse Tragweite erlangen können. Daher ist es in der Notambulanz besonders wichtig, bei Verletzungen, aber auch bei Distorsion der Halswirbelsäule (Abb. 1) oder bei direktem Kopf- oder Nackenanpralltrauma ohne knöcherne Verletzungen mit Ultraschall und/ oder Computertomographie (CT) mit Angiographie (Abb. 4) rasch eine Gefässdiagnostik durchzuführen und die Diagnose zu stellen. Bei häufig wegweisenden Symptomen und klinischen Zeichen mit Hornersyndrom (Abb. 2) und gut lokalisierten, zumeist lateral einseitig reissenden Nackenschmerzen sollte frühzeitig an diesen Typ der Gefässverletzung (Abb. 3) gedacht und entsprechend ein/e Facharzt/Fachärztin der Neurologie hinzugezogen werden.
Als zweithäufigste Schlaganfallursache im jüngeren und mittleren Lebensalter spielen zervikale Dissektionen der A. carotis interna und der A. vertebralis im Fachgebiet der Neurologie eine wichtige Rolle [1, 2]. Pathogenetisch ereignen sie sich überwiegend spontan oder bei Bagatelltraumen mit gesicherter Assoziation zu Vertebralis-Dissektionen, wie bei leichteren Sportunfällen oder bei chiropraktischen Manövern mit ruckartigen zervikalen Manipulationen [1-3].
Für spontane Dissektionen der zervikalen Arterien kann die jährliche Inzidenz mit gesamthaft etwa 3,6 Fällen, für die A. carotis mit 2,5-3 Fällen und für die Vertebralisarterien mit 1-1,5 Fällen auf 100'000 Einwohner recht gut geschätzt werden [4]. Über die Inzidenz und den klinischen Verlauf von Dissektionen bei gesichertem Zusammenhang mit einem Unfall ist dagegen weniger bekannt. Bislang wurde die Trauma-assoziierte jährliche Inzidenz, einschliesslich von Fällen mit knöchernen Verletzungen der Halswirbelsäule, als niedrig (maximal 0,5-2 %) eingeschätzt [4], dies auf der Grundlage von wenigen und überwiegend älteren Studien. Mit Einführung der Ganzkörper-Computertomographie mit Traumaspule und Kontrastmittelapplikation (CT-Angiografie) steht heute ein sensitives Screeningtool auch für die hirnversorgenden Arterien zur Verfügung [5]. Die Datenlage bei gesichert traumatischen Dissektionen ist aber noch als rudimentär zu bezeichnen: Zum Beispiel gab es nur eine retrospektive Untersuchung, die neuroradiologisch-morphologische Unterschiede spontaner und traumatischer Dissektionen darstellte [5]. Im Kolloquium werden wir erstmals über die Inzidenz und Verteilung von unfallbedingten Gefässverletzungen aus dem Schweizer Unfallregister berichten (Abb. 5).
Jährlich werden mehr als 700'000 Unfälle im UVG anerkannt. Eine Auswertung der Sammelstelle für die Statistik der Unfallversicherung (SSUV) über einen Zeitraum von 12 Jahren (2008 – 2019, Hochrechnung aus der SSUV-Stichprobe) zeigte, dass die meisten Unfälle ohne Taggeld- oder Rentenzahlungen bleiben (sog. «Bagatellfälle»). Die jährlich rund 900 Unfälle mit Arterienverletzungen gehören hingegen oft zu den schweren und schwersten Unfällen. Unter den Arterienverletzungen sind die insgesamt ca. 40-50 Dissektionen pro Jahr eine Teilmenge, die besonders gefährlich ist.
Im gutachterlichen Kontext ist bei den zervikalen Dissektionen die grösste Herausforderung, den viel häufigeren spontanen Gefässeinriss von einem traumabedingten abzugrenzen. Dies vor dem Hintergrund, dass der zeitliche Zusammenhang oft schwierig einzuschätzen ist. So können die neurologischen Symptome unmittelbar nach dem Unfall auftreten, aber auch nicht selten mit einer Latenz von Stunden oder eben auch Tagen bis wenigen Wochen [2, 4]. Zum anderen findet sich zumindest bei einem Teil der Betroffenen mit spontanen Dissektionen eine mögliche genetische Prädisposition in Form von vererblichen ultrastrukturellen Veränderungen des dermalen Bindegewebes sowie der Gefässwände wie auch molekulargenetisch gesicherte Diagnosen wie die eines Marfan- oder Ehlers-Danlos Syndrom [2].
Braucht es zum Auslösen einer zervikalen Dissektion dann überhaupt noch ein Bagatelltrauma? Welche klinischen und diagnostischen Kriterien hier eine überwiegende Wahrscheinlichkeit im Sinne eines kausalen Zusammenhangs mit dem Unfall herstellen können, werden einzelne Beiträge zusammenfassen und – so hoffen wir – zu einer angeregten Diskussion führen. Ziel dieses Kolloquiums ist es, gemeinsam mit den ausgewiesenen Experten auf diesem Feld eine umfassende interdisziplinäre Standortbestimmung vorzunehmen.
Wir freuen uns, Sie am 12. Mai 2022 zu unserem ersten Interdisziplinären Versicherungsmedizinischen Kolloquium in diesem Jahr in der Suva in Luzern begrüssen zu dürfen.
Korrespondenzadresse
Facharzt für Neurologie, FMH
PD Dr. Tobias Brandt
Teamleiter Versicherungsmedizin
Suva
Piazza del Sole 6
6501 Bellinzona
Literaturverzeichnis
- Engelter ST, Traenka C, Grond-Ginsbach C, Brandt T, Hakimi M et al. Cervical Artery Dissection and Sports. Front Neurol 2021 May 31;12:663830
- Debette S, Leys D. Cervical-artery dissections: predisposing factors, diagnosis, and outcome. Lancet Neurol. 2009;8(7):668-78.
- Engelter ST, Grond-Ginsbach C, Metso TM, Metso AJ, Kloss M, Debette S, Brandt T. Cervical artery dissection: Trauma and other potential mechanical trigger events. Neurology. 2013;80(21):1950-7.
- Schievink WI. Spontaneous dissection of the carotid and vertebral arteries. N Engl J Med. 2001;344(12):898-906.
- Sporns PB, Niederstadt T, Heindel W, Raschke MJ, Hartensuer R, Dittrich R, et al. Imaging of Spontaneous and Traumatic Cervical Artery Dissection. Clin Neuroradiol. 2018.