Als die Suva vor hundert Jahren ihren Betrieb aufnahm, steckte die Unfallmedizin noch in den Kinderschuhen. Es lag an der neuen Versicherungsanstalt, die medizinische Entwicklung voranzutreiben und Neuland zu betreten – immer wieder. Eine wesentliche Rolle spielten dabei die Chefärzte der Suva – allen voran der erste Oberarzt, Daniele Pometta. 1914 war er einer der wenigen Ärzte in der Schweiz, die bereits über Erfahrung in der Unfallmedizin verfügten. Gewöhnungsbedürftig war die neue Situation für die behandelnden Ärzte. Es kam immer wieder zu Spannungen – sogar der Bundesrat wurde eingeschaltet.
Die Gründung der Suva fiel in eine Zeit, als die Medizin zwar grosse Fortschritte machte, die Unfallmedizin aber noch weitgehend unbekannt war. Vor allem in der Schweiz, die von Kriegen verschont blieb und deshalb keine Kriegslazarette unterhielt, beschränkte sich die Erfahrung mit der Unfallmedizin auf die Grossbaustellen beim Eisenbahnbau – am Gotthard und am Simplon. An den Universitäten wurde die Unfallmedizin erst nach 1912 in die Lehrpläne aufgenommen.
Zu neu, zu wenig erprobt oder zu teuer waren die Entdeckungen, die für die Akutversorgung von Patienten unabdingbar waren. Mit den ersten Antibiotika wurde experimentiert, Bluttransfusionen stellten immer noch ein Risiko dar, Röntgengeräte waren unerschwinglich und bei Operationen war die Infektionsgefahr allgegenwärtig. Nur schon ein Knochenbruch stellte die Ärzte häufig vor Probleme.
Hauptzweck der Suva-Gründung war es, die soziale und rechtliche Lücke in der Bewältigung von Unfällen und von Unfallfolgen in der Schweiz zu füllen. Gleichzeitig kam der neuen Anstalt aber – nur schon aufgrund ihrer Funktion und Grösse – eine Führungsrolle auch im medizinischen Bereich, konkret in der Unfallmedizin und in der Erforschung von Berufskrankheiten, zu. Sie hatte die Mittel und das Interesse, den modernen Technologien und Behandlungsmethoden zum Durchbruch zu verhelfen. Zentral in diesem Bemühen war die Schaffung einer medizinischen Abteilung innerhalb der Organisationsstrukturen der Suva – mit einem Oberarzt an der Spitze.
Der erste Oberarzt der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt war ein Pionier auf seinem Gebiet. Er war bestrebt, das Wissen über die Unfallmedizin in die Ärzteschaft zu tragen. Bekannt wurde Pometta als «Tunnel-Doktor» in Brig, wo er die Bauarbeiter der Simplon-Tunnelunternehmung versorgte. Daniele Pometta war einer der ersten Ärzte in der Schweiz, die Erfahrungen in der Unfallmedizin sammelten. Erfahrung war in dieser Disziplin damals das einzige Kapital. Er war prädestiniert für das Amt des Oberarztes.
Pometta selber sprach von der Unfallmedizin als einem Stiefkind der Medizin. Weder die Akutversorgung noch die funktionelle Heilung seien in der Wissenschaft verankert. Er engagierte sich deshalb in der Weiterbildung der behandelnden Ärzte. 1918 gab er seine «Leitsätze für die ärztliche Unfallpraxis» – ein Buch mit 340 Seiten – heraus. Unfallmedizin interessierte damals nur ein paar Spezialisten.
«Finden die ärztlichen Besuche und Leistungen zu häufig statt, so entsteht beim Patienten sehr leicht die für seinen Nervenzustand schädliche Vermutung, seine Verletzungen seien gefährlicher, als er meinte.» Daniele Pometta, «Leitsätze für die ärztliche Unfallpraxis», Seite 112
«Obwohl … versicherte Unfallpatienten in ihrer Mehrzahl durchaus nicht die Geduld, die Bescheidenheit und das rücksichtsvolle Vertrauen zeigen, … muss anderseits anerkannt werden, dass viele Ärzte durch systematische Zurücksetzung der Unfallpatienten … [durch langen Aufenthalt im Wartzimmer] ein solches Benehmen geradezu provozieren.» Daniele Pometta, «Leitsätze für die ärztliche Unfallpraxis», Seite 115f.
Pometta legte den Grundstein, damals als einziger festangestellter Arzt der Suva. Und er professionalisierte den ärztlichen Dienst. Als er 1934 abtrat, verfügte die Suva bereits über rund zwanzig Ärzte in der Zentralverwaltung und in den Kreisagenturen.
Innerhalb von hundert Jahren zählte die Suva nur gerade acht Ober- beziehungsweise Chefärzte, wie sie ab 1971 hiessen. Diese kamen in der Regel aus den eigenen Reihen und bürgten für Kontinuität in der Weiterentwicklung der Unfallmedizin – nicht nur in der Suva, sondern auch an den Universitäten, wo das Wissen der Suva-Chefärzte gefragt ist.
Neben dem Oberarzt am Hauptsitz in Luzern verfügte die Suva seit ihrer Gründung über sogenannte «Kreisärzte», die in den Kreisagenturen als Bindeglieder zwischen den behandelnden Ärzten und der Verwaltung dienten. 1918 gab es neun Kreisärzte (in den neun Kreisagenturen). Sie waren damals noch privat praktizierende Allgemeinärzte, die im Nebenamt für die Anstalt arbeiteten. Dies genügte offenbar bis 1927. Dann wurde der Arbeitsumfang zu gross, und der Verwaltungsrat beschloss, das Vollamt einzuführen. Damit entflocht er auch die Doppelfunktion der Ärzte als Therapeuten und Versicherungsärzte.
Mit den Fortschritten der Medizin stieg die Zahl der Suva-Ärzte.1968 waren es 30. Das eigentliche Wachstum setzte mit der Eröffnung der Rehabilitationskliniken in Bellikon (1974) und Sion (1999) ein. 1993 war die Zahl der Ärzte, die in der Unfall-, Arbeitsmedizin und in der Rehabilitation tätig waren, auf 80 gestiegen. Heute sind es rund 200 Fachärztinnen und -ärzte, viele von ihnen mit Teilzeitanstellungen.
In den Anfangsjahren entwickelte sich das Verhältnis zwischen der Suva und den Ärzten alles andere als harmonisch. Misstrauen und Vorhaltungen prägten die Zusammenarbeit. Schon früh wetterten einzelne Spezialärzte gegen die Anstalt und die Unfallversicherung. Sie sprachen von «Grossmachtallüren» und störten sich an der Meldepflicht der Ärzte gegenüber der Anstalt. Damit werde die Freiheit und Würde des Ärztestandes untergraben.
«Dass die jetzige Form der Unfallversicherung zum Volksbetrüger schlimmster Sorte wird, zum Teil schon geworden ist, und materielles, noch mehr aber das seelische Volksvermögen zerstört, wird in kurzem eingesehen werden.» Eugen Bircher, Spitalchirurg in Aarau, «Schweizerische Ärztezeitung», 1920
«Es bleibt dann ja immer noch das ungelöste Problem, wie man den allen grösseren Organisationen innewohnenden imperialistischen und selbstherrlichen Tendenzen begegnen kann.» Andreas Gadient, Nationalrat der Demokratischen Partei Bündens (Vorläuferin der SVP), 21. Mai 1934
Ende der Zwanzigerjahre eskalierte die Situation, als die Suva auf einen Konfrontationskurs einschwenkte und Ärzte, die «überpraktizierten», das heisst zu viele Leistungen verschrieben, auf eine schwarze Liste setzte. Dies brachte die Ärzteschaft in Aufruhr. Sie deutete die Kritik der Suva als einen Angriff auf die freie Arztwahl und mobilisierte die Politik. Andreas Gadient, Nationalrat aus Graubünden, reichte eine Motion ein. Er verlangte eine umfassende Untersuchung der Suva.
1933 setzte der Bundesrat eine unabhängige Expertenkommission ein, in die als Vertreter der Ärzteschaft ausgerechnet Eugen Bircher berufen wurde. Die dreiköpfige Kommission, in der auch zwei Vertreter von Privatversicherungsgesellschaften sassen (Charles Simon, Präsident der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft, und Gottfried Bosshard, Verwaltungsratsdelegierter der «Winterthur»-Versicherung), kam 1937 zu einem anderen Schluss. Sie kritisierte die Ärzte und lobte die Suva für ihre Effizienz und Umsichtigkeit. Für die Suva war es ein Befreiungsschlag, die Kritik verstummte.
«Die Suva befleissigt sich einer grossen Sparsamkeit, die lebhaft kontrastiert mit dem imposanten Eindruck, den das Anstaltsgebäude hinterlässt.» Bericht der Expertenkommission, 1937
«Nicht alle Angehörigen des Ärztestandes vermögen diesen [moralischen] Anforderungen gerecht zu werden, und es fehlt leider manchen die hohe Auffassung der Berufspflicht, wie sie der überwiegenden Mehrheit der Ärzte eigen ist.» Bericht der Expertenkommission, 1937
Mit den Ärzten schloss man einen Burgfrieden. Auf der einen Seite wurden die Arzttarife gesenkt, auf der anderen Seite verzichtete die Suva auf flächendeckende Rechnungskontrollen und das Führen von Honorarstatistiken der Ärzte. Dies beruhigte vorübergehend die Gemüter, entsprach aber nicht dem Kontrollauftrag der Suva. Heute gehört die Kostenkontrolle zu den Kernaufgaben der Suva. Jährlich spart sie rund 200 Millionen Franken, weil sie Ungereimtheiten in Arzt- oder Spitalrechnungen entdeckt. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen nicht um Missbrauch, sondern um Fehler. Immerhin summieren sich diese auf fast 17 Prozent der Heilkosten.
Unfallfolgen zu heilen, ist ein wesentlicher Teil der medizinischen Bestrebungen. Eine der Hauptaufgaben der Suva ist es aber, dafür zu sorgen, dass Unfälle gar nicht erst geschehen. Deshalb kamen der Unfallverhütung und der Arbeitssicherheit von Anfang an eine grosse Bedeutung zu.