Nach dem knappen Ausgang der Volksabstimmung über die Unfallversicherung begaben sich die Gründer der «Versicherung Luzern», wie sie in den Anfängen hiess, auf einen steinigen Weg. Nur schon die Zusammensetzung des ersten Verwaltungsrates führte zu Querelen. Und dann galt es – aus dem Nichts heraus – ein komplexes System von Gefahrenklassen und Prämientarifen festzusetzen. Widerstand und Kritik waren der Versicherungsanstalt gewiss.
1912, als die Suva gegründet wurde, brauchte es Persönlichkeiten, die mit Entschlossenheit und Pioniergeist voranschritten. Sie mussten die unterschiedlichen Interessen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, von Bund und Versicherten in das neue Sozialwerk einbringen.
Aber selbst innerhalb der einzelnen Interessengruppen gingen die Meinungen und Ansprüche auseinander. Für den Bundesrat war es deshalb keine leichte Aufgabe, die Verwaltungsräte zu wählen. Mit den Arbeitern werde «eine elende Komödie» gespielt, wetterte der Gewerkschaftsbund. Für ihn hatten die christlich-sozialen Gewerkschaften ein zu grosses Gewicht erhalten. Und auf der Arbeitgeberseite fühlte sich das Gewerbe gegenüber der Industrie untervertreten. Der Bundesrat musste sogar eine Nachwahl ansetzen.
Dennoch: Die paritätische Zusammensetzung des Verwaltungsrates erwies sich als ein Erfolgsrezept der Suva – gerade, aber nicht nur in den Gründungszeiten.
Einer, der mit seiner geballten Schaffenskraft für den Erfolg der neuen Anstalt kämpfte, war Paul Usteri, Ständerat aus Zürich. Er hatte das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz als Kommissionssprecher geprägt und die Unabhängigkeit der neuen Versicherungsanstalt in das Gesetz geschrieben. Nun übernahm er das Amt des ersten Verwaltungsratspräsidenten und gab dafür das Direktorium der Schweizerischen Lebensversicherungs- und Rentenanstalt auf. Usteri war auch Vizepräsident (und später Präsident) der Schweizerischen Nationalbank.
Usteri präsidierte einen Verwaltungsrat, der aus 40 Personen bestand. Diese wiederum vertraten vier unterschiedliche Interessengruppen.
Der erste Verwaltungsrat bestand aus 38 Männern und 2 Frauen. Eine der beiden Frauen war Nina Schmid-Schriber, Arbeitersekretärin aus Kriens. Nach der Betriebseröffnung der Suva, von 1919 bis 1948, war sie sogar die einzige Verwaltungsrätin. In ihren Voten setzte sich die Vertreterin der christlich-sozialen Arbeiterschaft für die Kleinverdiener und die Frauen ein.
Nina Schmid-Schriber stiess sich an der untergeordneten Rolle, die Frauen in der Wirtschaftswelt spielten – auch in der Suva. Frauen waren gezwungen, aus dem Unternehmen auszuscheiden, wenn sie heirateten. Für das «weibliche Bureaupersonal» wurde eine eigene Lohnklasse geschaffen – die unterste.
Erst ab 1972 waren zwei Frauen im Suva-Verwaltungsrat vertreten, ab 1984 dann drei, heute sind es zehn Frauen (von vierzig Verwaltungsratsmitgliedern).
In der Zeit der Konstituierung, von 1912 bis 1918, standen der Verwaltungsrat und der erste Direktor der Suva, Alfred Tzaut, vor einer gewaltigen Aufgabe. Aus dem Nichts hatten sie eine Organisation aufzubauen, die sich über das gesamte Wirtschaftssystem der Schweiz spannte – und dies nach 1914 mitten in einem Weltkrieg.
Nur schon die versicherungspflichtigen Unternehmen zu erreichen und zu erfassen, war ein Kraftakt. Innerhalb von nur drei Monaten gingen fast 20 000 Betriebsanmeldungen ein. Die Unternehmen dann in Gefahrenklassen einzuteilen und Prämientarife zu errechnen, die von den Unternehmen akzeptiert wurden, war beinahe die Quadratur des Kreises. Die allerkleinsten Details mussten festgelegt werden – und dies ohne konkrete Erfahrungs- oder Vergleichswerte.
So war es kein Wunder, dass sich die Suva vom ersten Moment an mit Widerständen und Kritik konfrontiert sah. Die Arbeitnehmer machten die Suva für die gesetzliche Beschränkung des Krankengeldes auf 80 Prozent des Lohnes verantwortlich, den Arbeitgebern waren die Prämien zu hoch. Verunfallte warteten teilweise zu lange auf ihre Invalidenrenten, und in Zürich häuften sich plötzlich die Fälle von Hexenschuss.
Ein paar Müsterchen von Beschwerdeschreiben haben die Zeit überdauert:
Ein Arzt erhält die Operationskosten nicht zurückerstattet, weil er nicht «eidgenössisch diplomiert», sondern nur «patentiert» ist:
«Das bin ich ganz sicher, dass eine Priv.-Versicherung sich eines solchen Gebahrens schämen würde, das bin ich totsicher! … Schämen Sie sich wegen lumpigen 2½ Fränklein … Hätte ich hier nicht helfen sollen? … nein, soweit ist mein Humanitätsgefühl nicht gesunken, Ihr Herren Bureaukraten und Buchstabenreiter!» Thayngen, 26. Juni 1920
Der Vater eines Sohnes, der bei einem Unfall einen Finger verloren hat, beschwert sich über die Reduktion der Rente, nachdem der Sohn wieder die Arbeiten aufgenommen hat:
«Ihr werthes Schreiben habe erhalten, bin aber durchaus nicht einverstanden damit … Dass die Heilung dermassen gut fortgeschritten ist, hat er nur dem rücksichtslosen Drauflosarbeiten zu verdanken, was ihm manchen Schmerz verursacht hat, und nun soll er so dafür belohnt werden … Ein Simulant, der sich kaum getraut hätte, das Werkzeug in die Hände zu nehmen, der wäre wohl noch dafür prämiert worden … da muss ja der beste Patriot kopfscheu werden.» Walchwil, 13. November 1920
Ein Dreher wehrt sich gegen die Kürzung der Heilungskosten um 1.80 Franken, nachdem er sich das Auge verletzt hatte, ohne eine Schutzbrille zu tragen:
«Wenn der Arbeiter bei jeder Kleinigkeit beim Werkzeugzimmer erst eine Viertelstunde warten müsste, bis ihm eine Brille verabfolgt wird, so käme das der passiven Resistenz gleich und wäre die Firma dann bald auf dem Hund, was letzten Endes zur Folge hätte, dass man dann auch keine Unfallbeamte mehr brauchte, die glauben, den Arbeiter noch strafen zu müssen, weil ihm ein Unfall passierte.» Winterthur, 4. Januar 1921
Ein Arzt aus Winterthur regt sich über Doppelspurigkeiten in Formularen auf:
«Ich gestehe Ihnen, dass ich Mühe habe, Ihre beiden Schreiben in einigermassen diplomatischer Sprache zu beantworten … Steht es nun mir zu, zu entscheiden, ob eine ganze Untersuchung nötig ist oder nicht, oder muss ich das ausdrücklich begründen? … Weiterer Bemerkungen enthalte ich mich, da sie keine Komplimente sein würden und hoffe dringend, dass Sie mich in Zukunft mit solchen Belästigungen und Vexierfragen verschonen.» Winterthur, 11. August 1923
Nicht der Hexenschuss stellte die Suva vor Probleme. Vielmehr waren es Berufskrankheiten, die aus dem Nichts auftauchten, oder die beschränkten Möglichkeiten der Unfallmedizin, die noch in den Kinderschuhen steckte, oder das fehlende Bewusstsein von Ärzten und Patienten für die Bedeutung der raschen Wiedereingliederung in den Beruf.
Für die Suva war jedenfalls klar: Die Medizin hatte einen besonderen Stellenwert in der Organisation. In vielen Bereichen musste man die medizinische Entwicklung selber an die Hand nehmen.