Technik gegen Technik, so begann die Unfallverhütung in der Schweiz – mit Schutzvorrichtungen an Maschinen. Später versuchte man, nicht nur die Maschinen, sondern auch die Menschen zu ändern – mit Aufklärungsarbeit. Und schliesslich kam ein ganzheitlicher Ansatz dazu – mit dem Einwirken auf Prozesse, Abläufe, auf Systeme. Dies machte die Unfallverhütung – nach einer Anlaufzeit von mehreren Jahrzehnten – zu einer Erfolgsgeschichte: 1918 war noch fast jeder Dritte von einem Berufsunfall betroffen, 1985 war es jeder Neunte, 2015 nur noch jeder Sechzehnte.
2. November 2004, Amsteg, Neat-Baustelle, Los 252: Nichts geht mehr. Gabi I und Gabi II, die beiden Tunnelbohrmaschinen, stehen still. Für die Mineure ist das Arbeiten nicht mehr sicher. Es ist zu heiss, zu feucht, in der Luft hat es zu viel Staub. «Anlässlich einer gemeinsamen Sitzung», heisst es in der Medienmitteilung der Alptransit Gotthard AG, habe man mit den Unternehmern und der Suva «beschlossen, den maschinellen Vortrieb in beiden Tunnelröhren einzustellen». Es blieb keine andere Wahl – die Messungen der Suva hatten ergeben, dass vor allem die klimatischen Bedingungen – eine Mischung von Hitze und Luftfeuchtigkeit – nicht mehr aus dem roten Bereich kamen.
Lüftungsanlagen müssen die Temperaturen, die bis zu 50 Grad Celsius betragen, auf 28 Grad abkühlen, der rote Bereich beginnt bei 32 Grad. 36 bis 37 Grad bei einer Luftfeuchtigkeit von 67 Prozent bringen das Herz-Kreislauf-System auch der härtesten Arbeiter an den Anschlag. Dies entspricht einer gefühlten Temperatur von 52 bis 56 Grad.
Während einer ganzen Woche war der Betrieb eingestellt. Dann erlaubte die Suva zumindest den provisorischen Weiterbetrieb. Noch waren die Staubwerte in der Oströhre zu hoch, doch mit Sofortmassnahmen war der Tunnelvortrieb möglich. Für die Installation der definitiven Lüftungs- und Entstaubungsmassnahmen wurde eine Frist von zwei Wochen gesetzt.
Gewiss: Die grösste Baustelle der Schweiz stillzulegen, ist ein aussergewöhnlicher Eingriff. 2004 war er möglich. Niemand zweifelte an der Notwendigkeit, die Arbeiter – besonders unter Tage – zu schützen.
Dies war nicht immer so. Und auch die Suva zeigte nicht immer die Entschlossenheit, mit der sie heute vorgeht. In den Anfangsjahren stand sie in einem Dauerclinch mit den Inhabern der versicherten Betriebe, die sich über die exorbitanten Prämien beklagten. Da hielt sich die Suva mit Kontrollen, Auflagen, Weisungen oder sogar Sanktionen zurück. Sie wollte eine Versicherungs-, keine Strafanstalt sein.
Sie folgte dem Motto, das damals die Unfallverhütung in Europa prägte: Technik gegen Technik. Unfälle galt es dort zu verhindern, wo sie sich ereigneten – an der Maschine. So spezialisierte sich die Suva darauf, Schutzvorrichtungen in einem eigenen Konstruktionsbüro zu entwerfen: Hauben für Kreissägen oder Verschalungen für Bohr- und Fräsmaschinen. Dafür wurde sie sogar im Ausland ausgezeichnet.
Einer der ersten Schwerpunkte der Unfallverhütung war der Augenschutz. Vor allem die Arbeit an Schmirgelscheiben verursachte jährlich Hunderte von Unfällen. Bereits in ihrem ersten Betriebsjahr verkaufte die Suva mehr als 6000 Schutzbrillen.
Schutzhauben und -brillen waren die Aushängeschilder der technischen Unfallverhütung. Nur zaghaft begann die Suva, auch Aufrufe an die Arbeiter zu richten. Dabei setzte sie auf Abschreckung. Mit einem Schockbild warnte sie vor den Gefahren der Textilmaschinen. «Der Arbeiterin wurden die losen Haare von der Transmission erfasst und zum Teil mitsamt der Kopfhaut von der Schädeldecke getrennt. Die Haare wachsen nicht mehr nach», stand zwischen zwei Bildern einer skalpierten Frau.
Die sogenannte «psychologische Unfallverhütung» lehnte die Suva ab. Über eine Plakatkampagne in Deutschland machte sie sich sogar lustig. Dort wurde 1926 auf einer Darstellung, die aus zwei Bildern bestand, das «richtige» und das «falsche» Anbringen von Plakaten in Baubaracken gezeigt.
Auf dem einen Bild interessierten sich die Arbeiter für die Unfallverhütungsplakate. Darüber stand: «Richtig». Auf dem anderen Bild blieben die Plakate unbeachtet, weil sie von aufgehängten Kleidern verdeckt waren. Darüber stand: «Falsch». Sarkastisch kommentierte die Suva: «Als Legende könnte man unter das Bild rechts treffender setzen: ‹Man hat soeben Plakate angebracht› und unter das Bild links: ‹Die Plakate hängen seit einer Woche›.»
1940 noch zeigte sich der Chef der Unfallverhütungsabteilung gegenüber der «psychologischen Unfallverhütung» zurückhaltend. «Man sucht mit allen möglichen Begründungen die Unfallverhütung als eine Angelegenheit der Vorsicht des Arbeiters hinzustellen», schrieb er.
«Es ist eben ein bequemes Mittel für Arbeitgeber und Aufsichtsorgane, um die Verantwortung für die Unfälle auf die Arbeitnehmer abzuwälzen.» Max Helfenstein, Chef der Unfallverhütungsabteilung von 1918 bis 1945
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein Umdenken ein. Aus der klassischen Unfallverhütung, die versuchte, Mensch oder Maschine zu verändern, wurde nun ein ganzheitlicher Ansatz. Man versuchte die Systematik von Unfallhergängen, von Produktionsprozessen und Arbeitsabläufen zu erfassen.
Gleichzeitig begann die Suva, Allianzen mit den Berufsverbänden zu schmieden. Sie versuchte, die Unternehmer in die Pflicht zu nehmen – mit Erfolg: Grosskonzerne wie die Brown, Boveri & Cie. in Baden oder die Gebrüder Sulzer AG in Winterthur bauten ihre eigenen Unfallverhütungsabteilungen aus.
Höhepunkt der Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft war der «Suva-Schuh». Er war keine Erfindung der Suva, sondern bereits 1947 von der Gebrüder Sulzer AG aus Kriegsbeständen der US-Armee eingekauft und an Gussputzer abgegeben worden. In einer Kooperation mit der Schuhindustrie entwickelte ihn die Suva weiter, in den Sechzigerjahren gab es den Stahlkappenschuh in mehr als 60 Ausführungen und «in gefälliger und vielfältiger Form und Machart». Er wurde sogar zu einem Trendschuh der damaligen Alternativszene.
1956 wechselte die Leitung der Unfallverhütungsabteilung. Der neue Chef war noch nicht in Amt und Würde, als er bereits eine mehrwöchige Studienreise in die USA unternahm – und begeistert zurückkam. Er liess sich von den amerikanischen Ideen der «Safety First»-Bewegung inspirieren und lenkte die Präventionspolitik der Suva in eine neue Richtung: Aufklärung und Betonung des Sicherheits-, nicht des Unfallgedankens, erhielten eine zentrale Rolle. Schon bald begann die Suva Vorträge zu organisieren und Sicherheitsbeauftragte in Unternehmen auszubilden.
Und sie wechselte in der «psychologischen Unfallverhütung» von der Abschreckungs- zu einer positiven Präventionsstrategie. Ironie und Humor waren der Schlüssel, um den Sicherheitsgedanken in die Arbeiterschaft zu tragen und in der Gesellschaft zu verankern.
«Wir dürfen nicht Unfälle zeigen, wenn wir keine Unfälle wollen.» Grafiker der Suva, 1966
Dabei lotete die Suva auch die Grenzen aus. 1988 eckte sie mit einem «Kalender für Baubaracken» an, der für das sichere Verhalten auf Leitern warb. Er zeigte, so die Suva, «sechs grossformatige Blätter, auf denen eine hübsche junge Frau auf humorvolle Weise typische Situationen … auf der Leiter darstellt». Das einzige Problem: Die «hübsche junge Frau» war «leicht bekleidet», so der «Nebelspalter», was wiederum die Politik auf den Plan rief. «Frauenverachtend» und «sexistisch» sei der Kalender, entrüstete sich Angeline Fankhauser, SP-Nationalrätin aus dem Kanton Basel-Landschaft, und reichte eine Einfache Anfrage an den Bundesrat ein.
«Was hält der Bundesrat von der Haltung der Suva, die Bauarbeiter könnten am wirkungsvollsten mittels frauenverachtender, sexistischer Bilder auf die Unfallverhütung aufmerksam gemacht werden?» Angeline Fankhauser in ihrer Einfachen Anfrage an den Bundesrat, 1988
«Bei den gewählten Darstellungen kann in guten Treuen daran gezweifelt werden, ob diese ein adäquates Mittel für den beabsichtigten Zweck darstellen oder ob sie nicht vielmehr beim Zielpublikum sachfremde Assoziationen hervorrufen, die in keinem Zusammenhang mit dem ‹Sicherheitsprogramm Leitern› stehen.» Bundesrat in seiner Antwort auf die Einfache Anfrage, 1988
Ein gefundenes Fressen war der Kalender auch für die Medien. So schafften es die Bilder nicht nur in den «Blick», sondern in einer humorvollen Weise auch in den «Nebelspalter» und das Schweizer Fernsehen.
«Es kam zu moralgesteuerten Protesten und … zum Vorwurf, die Bilder lenkten ab, sie führten lediglich zu sachfremden (leiterfremden) Assoziationen … Da spielen eben die Assoziationen umgekehrt: vom Sachfremden zur Sache. Dieses Rezeptes bedienen sich ja meist auch die 1.-August-Redner in ihrer Rhetorik.» «Nebelspalter», 1988
Meist sind sie witzig und sie spielen mit Worten – aber nicht nur. Mit ihren Sicherheitskampagnen versucht die Suva, sowohl Aufmerksamkeit zu erringen als auch auf die Ernsthaftigkeit der Gefahren einzugehen.
Bekannt sind die TV-Spots der Suva – nicht nur zu den Freizeit-, sondern auch zu den Arbeitsunfällen.
Seit den Sechzigerjahren zeigte die Präventionstätigkeit – anders als noch vor dem Zweiten Weltkrieg – auch Wirkung. Innerhalb von dreissig Jahren halbierte sich die Unfallhäufigkeit.
Eine neue Ära der Unfallverhütung begann in der Schweiz mit dem neuen Unfallversicherungsgesetz, das 1981 erlassen und 1984 in Kraft gesetzt wurde. Erstens wurde die Prävention verbindlich für alle Betriebe in der Schweiz, zweitens waren neben der Suva nun auch die Arbeitsinspektorate der 26 Kantone und des Bundes zuständig für den Vollzug. Für die Überwachung der vereinheitlichten Vorschriften wurde die Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit (EKAS) eingesetzt.
Dennoch spielte die Suva weiterhin die zentrale Rolle in der Unfallverhütung. Sie stellte (und stellt) – von Gesetzes wegen – den Vorsitzenden der EKAS, dazu 4 der mittlerweile 15 Mitglieder, über sie laufen auch rund 80 Prozent der finanziellen Mittel (Einnahmen aus dem Prämienzuschlag, der in die Prävention fliesst, und Aufwendungen für die Arbeitssicherheit).
Mit der neuen Gesetzesgrundlage wurden die Bestimmungen verschärft. So gelang es der Suva in den Neunzigerjahren, den Alkohol von den Baustellen zu verbannen. Noch in den Achtzigerjahren, bei den Beratungen über die Vernehmlassung zu einem entsprechenden Absatz in der Unfallverhütungsverordnung (VUV), waren die Meinungen in der Suva geteilt.
«Im Vergleich zu den zahlreichen, materiell gewichtigen Bestimmungen in dieser Verordnung finde ich diese Vorschrift etwas kleinlich.» Fritz Leuthy, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes und Vizepräsident des Suva-Verwaltungsrates, 3. März 1983
«Wenn ein Arbeitnehmer nicht im Besitze seiner fünf Sinne ist, dann ist er von der Arbeit wegzuweisen.» Walter Seiler, Direktionsmitglied der Suva, 3. März 1983
«Vision 250 Leben» – dieses Präventionsprogramm lancierte die Suva im Jahr 2010. Innerhalb von zehn Jahren will sie damit 250 Todes- und ebenso viele schwere Invaliditätsfälle als Folge von Berufsunfällen verhindern. Konkret soll die Zahl der tödlichen Unfälle halbiert werden. 2010 lag diese noch bei knapp 100, 2015 bei 57.
Ein zentrales Instrument auf dem Weg zu diesem Ziel sind die «lebenswichtigen Regeln», die von der Suva spezifisch für die einzelnen Berufsgruppen entwickelt wurden – für die Baubranche beispielsweise in neun Sprachen.
Für den Hochbau gilt es, beispielsweise die nachfolgenden acht konkreten Regeln zu beachten:
Arbeitsunfälle zu verhüten, gehört zu den Kernaufgaben der Suva. Doch nicht nur Unfälle gefährden die Arbeitssicherheit, auch Gifte, Dämpfe, Strahlen, Lärm oder Staub führen zu Gesundheitsschäden. Berufskrankheiten kommen häufig aus dem Nichts und werden erst entdeckt, wenn es schon zu spät ist – wie die Silikose in der Mitte des 20. Jahrhunderts.