Expertenbericht: Befreiungsschlag statt Generalkritik
Mit den Sozialpartnern fand die Versicherungsanstalt schon bald ein gutes Einvernehmen. Nicht so mit den Ärzten. Misstrauen und Vorhaltungen prägten das Verhältnis. Ende der Zwanzigerjahre eskalierte die Situation. Ärzte, die «überpraktizierten», wurden von der Anstalt auf eine schwarze Liste gesetzt, die Ärzteschaft mobilisierte die Politik. Eine unabhängige Expertenkommission kam aber 1937 zu einem anderen Schluss, als es sich die Ärzte erhofft hatten. Für die Suva war es ein Befreiungsschlag, die Kritik verstummte.
Inhalt
Dass sich die Unfallversicherungsanstalt und die Ärzte schon früh auf einen Konfrontationskurs begaben, hatte zunächst politische Gründe. Erst später ging es auch um Geld.
Politisch war es den Ärzten in der Schweiz – anders als in Deutschland – gelungen, die freie Arztwahl auch in der Unfallversicherung durchzusetzen. Schon früh hatte sich die Ärzteschaft organisiert, 1901 wurde die «Verbindung der Schweizer Ärzte» (FMH) als Standesorganisation gegründet.
Ärzte wollen keine Kontrollen
1918, nach der Betriebsaufnahme, sah sich die Versicherungsanstalt zu einem harten Sparkurs gezwungen. Grund war die Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg. Was den Ärzten nicht behagte, war der Umstand, dass Arztrechnungen kontrolliert – und beanstandet – wurden. Sie empfanden die Aufsicht als einen bürokratischen Übergriff und als eine versteckte Kritik an der freien Arztwahl.
Dies hatte auch mit den Personen an der Spitze der Versicherungsanstalt zu tun. Daniele Pometta, der erste Oberarzt der Anstalt, hatte es als Spitalarzt in Brig geschafft, die Hausärzte aus der Klinik auszuschliessen. Und der erste Direktor, Alfred Tzaut, der zuvor die Assurance Mutuelle Vaudoise in Lausanne geleitet hatte, galt als ein ehemaliger «Kassendirektor», der nicht müde wurde, die Arzthonorare und das «Überpraktizieren» der Ärzte zu kritisieren.
Unrecht hatten die Ärzte mit ihrem Unbehagen nicht. Und schon bald begannen auch die handfesten Argumente, eine Rolle zu spielen. 1916, als der erste Ärztetarif zwischen der Unfallversicherungsanstalt und den kantonalen Ärztegesellschaften ausgehandelt wurde, war eine Einigung schnell erreicht. Dann aber setzte die Kriegs- und Nachkriegsinflation ein. Mit den Tarifrevisionen von 1921 und 1923 waren die Ärzte nicht zufrieden, dennoch gab es keine neuen Verhandlungen.
«Volksbetrüger schlimmster Sorte»
Wie sehr sich die Ärzte unter Druck fühlten, zeigt ein Beitrag in der «Schweizerischen Ärztezeitung» von 1920. Eugen Bircher, Spitalchirurg in Aarau, wetterte gegen die Versicherungsanstalt: «Dass die jetzige Form der Unfallversicherung zum Volksbetrüger schlimmster Sorte wird, zum Teil schon geworden ist, und materielles, noch mehr aber das seelische Volksvermögen zerstört, wird in kurzem eingesehen werden.»
Bircher störte sich an der Meldepflicht der Ärzte gegenüber der Anstalt. Sie untergrabe die Freiheit und Würde des Ärztestandes. Er forderte eine acht- bis zehnköpfige Ärztevertretung im Verwaltungsrat und einen Ärzte-Gerichtshof.
1921, jetzt als Sprecher von Ärztevereinigungen, verschärfte er den Ton. «Grossmachtallüren» trieben die Unfallversicherungsanstalt an, schrieb er. Bircher war ein angesehener Kriegschirurg, der später auch eine militärische Karriere machte, sich in den Vierzigerjahren aber aufgrund seiner Fehleinschätzungen von Frontismus und Nationalsozialismus in das politische Abseits manövrierte.
Suva geht auf Konfrontationskurs
1925 hielt auch die Versicherungsanstalt nicht mit Kritik an der Ärzteschaft zurück. In ihrem Geschäftsbericht sprach sie erstmals die teuren Arztleistungen an, wobei sie nicht die Tarife in den Vordergrund stellten sondern:
«Was sich summiert, ist die übersetzte Zahl der Leistungen, für welche die Ärzte glauben Rechnung stellen zu dürfen oder die sie glauben vollziehen zu müssen.»
Nun setzte die Direktion der Anstalt auf Konfrontation. Sie ging gerichtlich gegen Ärzte vor und stiess Drohungen aus. Man werde zu Mitteln greifen, die «den Ärzten nur unangenehm sein» könnten. Und man werde «die ärztliche Behandlung und die dafür gestellten Rechnungen einer ernsthaften Kontrolle» unterziehen, schrieb sie 1925. Dies fassten die Ärzte als einen offenen Angriff auf die freie Arztwahl auf.
1927 lief das Fass über. Als die Suva mit einer Liste von 340 Ärzten, die sie als «schwarze Schafe» kennzeichnete, an die FMH gelangte, war die Ärzteschaft alarmiert. Sie schaltete die Politik ein und fand Verbündete. Andreas Gadient, Nationalrat der Demokratischen Partei Bündens (die 1971 in der SVP aufging), und 26 Mitunterzeichner reichten eine Motion ein, in der sie die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission verlangten. Diese sollte die Anstalt sowie deren Verwaltungsstruktur und Prämienpolitik überprüfen.
«Imperialistische und selbstherrliche Tendenzen»
Gadient verdeutlichte seine Kritik in einem späteren Schreiben an die Suva. Es sei wichtig,
«den Betriebsinhaber doch mehr als Kunden denn als Untertanen zu behandeln,»
denn es bliebe «ja immer noch das ungelöste Problem, wie man den allen grössern Organisationen innewohnenden imperialistischen und selbstherrlichen Tendenzen begegnen kann».
1931 wurde die Motion eingereicht, 1934 war sie noch immer nicht behandelt. In der Zwischenzeit hatte das Volkswirtschaftsdepartement aus eigener Initiative gehandelt. 1933 wurde eine dreiköpfige Kommission eingesetzt, die für die Suva nichts Gutes verhiess. Sie bestand aus dem Präsidenten der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft, aus dem Verwaltungsratsdelegierten der «Winterthur»-Versicherung und ausgerechnet aus Eugen Bircher, dem damaligen Sprecher der Ärzteschaft und scharfen Kritiker der Suva.
Die unabhängige Expertenkommission erhielt einen umfassenden Auftrag. Sie beschränkte sich nicht auf das Problem des «Überpraktizierens», sondern schloss die Geschäftsführung und Organisation, die Verwaltungs- und Heilkosten, die Leistungen an die Versicherten, die Prämienpolitik, das Rentendeckungssystem und die Anlage der Reserven in die Untersuchung ein.
Studienreise nach Holland
Dabei wurden, wie von Gadient in seiner Motion gefordert, auch Vergleiche mit dem Ausland gemacht. Insbesondere das holländische System stiess auf Interesse; die Experten unternahmen sogar eine Studienreise nach Amsterdam. Darauf hatte die Suva gedrängt, denn erstens waren die Grösse und die Wirtschaftsverhältnisse in den Niederlanden vergleichbar und zweitens lagen die Kosten um einen Drittel tiefer als in der Schweiz, weil die «Rijksverzekeringsbank» über eine weitreichende Kontrollgewalt gegenüber den Ärzten verfügte.
Experten stellen sich auf Seite der Suva
1937 lag der Expertenbericht vor. Er umfasste 165 Seiten und entlastete die Suva in allen Kritikpunkten. Insbesondere der Verwaltung stellte er ein gutes Zeugnis aus. Sie befleissige sich «einer grossen Sparsamkeit, die lebhaft kontrastiert mit dem imposanten Eindruck, den das Anstaltsgebäude hinterlässt». Auch habe die Kommission,
«im Gegensatz zu häufigen Behauptungen, festgestellt, dass die Anstalt den Verunfallten gegenüber es an sozialem Empfinden und Humanität nicht fehlen lässt und ihres Amtes im besten Geiste waltet.»
Doch damit nicht genug: Explizit bestätigte der Bericht, was die Suva kritisiert hatte, nämlich den Missbrauch durch «Überpraktizieren». Unverblümt hielten die Experten fest:
«Die Behandlung von Patienten im Rahmen der Sozialversicherung stellt tatsächlich die Ärzte vor Anforderungen moralischer Art, wie dies kaum in einem andern Bereich der Fall ist. Nicht alle Angehörigen des Ärztestandes vermögen diesen Anforderungen gerecht zu werden, und es fehlt leider manchen die hohe Auffassung der Berufspflicht, wie sie der überwiegenden Mehrheit der Ärzte eigen ist.»
Die drei Experten bemängelten auch die hohen Arzthonorare und empfahlen eine Herabsetzung der Arzt-, Röntgen- und Spitaltarife sowie eine verschärfte Kontrolle der Heilbehandlungen – allerdings nicht durch eine gesetzgeberische Anpassung, sondern durch die Erweiterung des ärztlichen Dienstes der Anstalt. Sie wiesen sogar auf die Möglichkeit hin, anstaltseigene Röntgeninstitute und Spitäler zu errichten.
Burgfrieden mit den Ärzten
Aufgrund der Empfehlungen nahm die Suva unverzüglich Tarifverhandlungen mit den Ärzten und Spitälern auf. 1939 einigten sich die FMH und die Suva auf eine neue Tarifordnung, die zu einer Senkung der Arzthonorare führte. Es war insofern eine Kompromisslösung, als die Suva einwilligte, die Rechnungskontrollen auf die ausserordentlichen Fälle zu beschränken und die jährlichen Statistiken über die Arzthonorare einzustellen.
Ausserdem einigten sich die FMH und die Versicherungsanstalt darauf, die Meinungsverschiedenheiten nicht mehr in der Öffentlichkeit auszutragen, sondern eine «Paritätische Vertrauenskommission» zu schaffen. 1938 wurden vier regionale und eine nationale Vertrauenskommission eingerichtet. Ihnen kam auch eine Schlichtungsfunktion in Fragen der Honorierung oder der Art und des Umfangs der ärztlichen Behandlung zu.
Konsens statt Konfrontation
Gleichzeitig wurde eine konsultative Fachkommission gebildet, die als Plattform für die Erörterung von wissenschaftlichen Streitfragen diente. Daraus entstanden die «Mitteilungen der medizinischen Abteilung», die erstmals 1937 erschienen und heute als «Suva Medical» bekannt sind.
Innerhalb von wenigen Monaten hatte sich das Verhältnis zwischen der Ärzteschaft und der Versicherungsanstalt entspannt. Statt auf Konfrontation setzten nun beide Seiten auf Konsens. Und dabei blieb es. Zudem wurde ein weiterer Kritikpunkt der Ärzte entkräftet, den Eugen Bircher bereits in den Zwanzigerjahren angesprochen hatte – den mangelnden Stellenwert innerhalb der Anstaltsorganisation: 1942 wurde der Oberarzt mit den Kompetenzen eines Subdirektors ausgestattet und ausschliesslich dem Direktor unterstellt.
Rechnungskontrollen: DNA der Suva
Was die Kontrolle der Arztrechnungen anbelangt, war der Burgfrieden von 1939 nur eine vorübergehende Lösung. Nicht zuletzt der Druck der versicherten Betriebe, das heisst der Prämienzahler, führte zu einem Umdenken. Heute sind die systematischen Rechnungskontrollen, so Philippe Conus, Leiter der Agentur Lausanne, in einem Interview,
«Bestandteil der DNA unseres Unternehmens.»
2015 wurden insgesamt 290 000 Rechnungen von Ärzten, Spitälern oder Therapeuten zurückgewiesen. Das sind mehr als 10 Prozent der rund 2,3 Millionen kontrollierten Rechnungen. Dabei handelte es sich in den meisten Fällen nicht um Missbrauch, sondern um Fehler. Doch allein die Korrektur von Fehlern machte einen Betrag von 200 Millionen Franken aus. 2015 waren dies fast 17 Prozent der gesamten Heilkosten.
Titelbild: Die Expertenkommission (von links): Gottfried Bosshard, Verwaltungsratsdelegierter der «Winterthur»-Versicherung, Eugen Bircher, Sprecher der Ärzteschaft, und Charles Simon, Präsident der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft.