Eine Frau mit Roboterhand
2. April 2024 | von Eveline Chironi-Meisser

Von der medizinischen zur beruflichen Rehabilitation. Ein Case Report

Der Rehabilitationsprozess der Rehaklinik Bellikon wird mit modernster Therapie- und Rehabilitationstechnik unterstützt und mit Eingliederungsmassnahmen ergänzt. Der Fall eines jungen Mannes zeigt exemplarisch, wie eine ganzheitliche Rehabilitation erfolgreich in eine berufliche Perspektive führt. 

Inhalt

      Einleitung

      Menschen mit erheblichen Verletzungen oder Krankheitsfolgen tragen oft schwer an den gesundheitlichen Einschränkungen. Nicht selten gelingt es nur mit Schwierigkeiten, eine neue Lebensgestaltung zu erschliessen. Neben dem Wiedererlangen basaler Funktionen zur Bewältigung der Lebenspraxis, ist auch die Rückkehr in eine berufliche Tätigkeit für die Betroffenen von zentraler Bedeutung. Sie führt in die soziale Sicherheit und sind damit Teil einer wieder erlangten Selbstständigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft [1]. Daneben ist Arbeit sinn- und identitätsstiftend, fördert und strukturiert, ermöglicht soziale Begegnungen und führt regelmässig zu Anerkennungen zu Gunsten eines stabilen Lebens- und Selbstwertgefühls [2]. Eine Berufstätigkeit wirkt positiv auf die (psychische) Gesundheit und trägt damit auch zur Rekonvaleszenz bei [3]. Bei Abwesenheit einer (Erwerbs-)Arbeit erhöht sich das gesundheitliche Risiko leider erheblich [4,5,6,7].

      In Vergangenheit wurde oft mit der beruflichen Eingliederung gewartet, bis die medizinische Phase abgeschlossen war. Leider gingen dabei oft viel Zeit, Hoffnung und Perspektiven (auch mögliche Arbeitsplätze) verloren, was die Einengung auf Krankheit, Unfallfolgen und somit auch Chronifizierungstendenzen begünstigte. 

      Wirkfaktoren [9,10,11,13] für eine erfolgreiche Eingliederung werden bereits seit mehreren Jahren beforscht, so dass sich auch die Rehabilitationspraxis der Rehaklinik Bellikon in Zusammenarbeit mit dem Kompetenzzentrum berufliche Eingliederung angepasst hat. Als einzige Rehabilitationsklinik der Schweiz werden bereits während der medizinischen Rehabilitation speziell entwickelte arbeitstherapeutische Massnahmen in der Ergotherapie [14] sowie agogische Interventionen [12] durchgeführt. Letzte Forschungsergebnisse stützen diese Vorgehensweise und bestätigen, dass eine frühe, sorgfältige Begleit- und Beziehungsarbeit, [9] ein tiefer Betreuungsschlüssel [8] und eine bewusst geführte interdisziplinäre Koordination [9] Erfolgsfaktoren für eine nachhaltige Erwerbstätigkeit darstellen.

      Rehabilitationsprozess einer Neuroborreliose

      Akutversorgung und erste Frührehabilitation im Universitätsspital Zürich

      Herr X, ein 20 Jahre alter, sportlicher Holzbaufachmann, wird im Sommer 2020 mit starken Kopfschmerzen und Lähmungserscheinungen der linken Körperhälfte sowie einem Kribbeln im Gesicht in die Neurologie des Universitätsspitals Zürich (USZ) eingeliefert. Es folgt die Diagnose einer Neuroborreliose (Lumbalpunktion mit Zellzahl 375, Borrelia Burgdorferi lgG und lgM reaktiv). Klinisch besteht ein sensomotorisches Hemisyndrom. Mittels cMRI und weiteren Untersuchungen konnte bestätigt werden, dass es sich sich um ein Infarkt-geschehen in der ventralen Medulla oblongata links (vertebrobasiläres Stromgebiet) im Rahmen der Vaskulitis unter Neuroborreliose handelt. Herr X. ist in allen Untersuchungen vollkommen orientiert und kognitiv ansprechbar. Er kann aber zu diesem Zeitpunkt weder gehen noch sich selbst versorgen. Nach der unmittelbaren Behandlung mit Antibiotika im USZ und einer ersten Aktivierung wird er mit Anordnung einer Pflegestufe 2 in die Rehaklinik Bellikon verlegt. 

      Stationäre Neurorehabilitation mit flankierender Psychotherapie und Hilfsmittelversorgung, erster Arbeitsperspektive unter arbeitsorientierter Therapie, sowie Gesprächen in der Fachstelle Arbeit

      Herr X. bleibt fast acht Monate in Bellikon hospitalisiert. Er rekapituliert diese Rehabilitationsphase als sehr streng, aber lohnenswert. «Ich hatte teilweise bis zu 11 verschiedene Therapien pro Tag. Ich zeigte unter der Ergotherapie, der Physiotherapie und dem Kräftigungstraining innerhalb von drei Monaten rasch Fortschritte. Ich konnte bald den Oberschenkel wieder ansprechen und im Therapiebad und im Gehpark das Gehen zurückerobern.» Die Auseinandersetzung mit der Krankheit und den Einschränkungen sowie die Verarbeitung der ganzen Geschehnisse bleiben für den jungen Mann jedoch eine Herausforderung. In der Rehaklinik Bellikon nimmt er daher neben den anderen Therapien auch gerne psychotherapeutische Unterstützung beim psychologischen Dienst in Anspruch. Die Therapiegespräche helfen ihm, seinen emotionalen Achterbahnen Herr zu werden. 

      Damit das Gehen und der therapeutische Prozess besser gelingen, wird in der Orthopädietechnik der Rehaklinik Bellikon früh eine Fussheberorthese angepasst und eine Versorgung mit Spezialschuhen in der hausinternen Orthopädieschuhmacherei vorgenommen. Aufgrund der guten medizinischen Fortschritte und der sich doch auch einstellenden Therapiemüdigkeit darf Herr X. in ein ambulantes Rehabilitationssetting wechseln. Er wohnt gleichzeitig dazu in der Aussenstation der Klinik und übt sich dort im Aufbau einer selbstständigen Lebenspraxis (Selbstversorgung, Kochen usw.). 

      Aufgrund der leider persistierenden Einschränkungen in der Motorik/Feinmotorik wird er der Fachstelle Arbeit zu Beratungsgesprächen zugewiesen, wo intensiv über eine neue berufliche Ausrichtung gesprochen wird. Herr X. beschreibt, er sei zu diesem Zeitpunkt - nach der langen therapeutischen Phase und der noch fehlenden Belastbarkeit - noch nicht bereit gewesen, direkt in ein berufliches Setting zu wechseln. Dennoch sei ihm bewusst gewesen, dass eine Umschulung auf ihn zukommen werde und er von der Baustelle Abschied nehmen müsse. 

      Förderung der beruflichen Rückkehr und Neuorientierung in Kombination mit Therapien der Neurorehabilitation, erneute Unterstützung mit einer kürzeren stationären Rehabilitation 

      In Koordination mit allen Behandlern und Therapiestellen wie auch den Sozialversicherungen kann Herr X. im Rahmen der Frühintervention der Invalidenversicherung (IV) in eine sozial-berufliche Massnahme (Integrationsmassnahme) geführt werden, wo er zunächst halbtags mit spezifischen und individuell angepassten arbeitstherapeutischen Massnahmen in seiner Belastbarkeit- und Leistungsfähigkeit gefördert wird und schliesslich auch die Präsenzzeit gesteigert werden kann. Gleichzeitig führt er die medizinischen Therapien im Hause, ergänzend zu den Integrationsmassnahmen, weiter und darf in den Unterkünften der Rehaklinik Bellikon wohnen. 

      Nach Erlangen einer stabilen Belastbarkeit kann Herr X. nach drei Monaten Integrationsmassnahme in eine berufliche Grundabklärung aufgenommen werden. Die berufliche Grundabklärung erhebt mittels theoretischer und praktischer Aufgaben ein berufliches Profil, das durch eine Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik wie eine Neigungsabklärung der Berufsberatung ergänzt wird. Herr X. ist sich weiter unschlüssig. Er kann sich einen Beruf, der überwiegend am Computer ausgeübt wird, trotz seiner motorischen Probleme nicht vorstellen. Er lehnt daher die berufsbezogenen Weiterbildungen zum Zeichner oder in der Bauplanung des Holzbaus nach nochmaliger Überprüfung ab. Herr X. liebäugelt schliesslich mit einer Ausbildung zum Primarlehrer. Er muss aber feststellen, dass er die Aufnahmekriterien (fehlende Berufserfahrung) für den Quereinstieg an die pädagogische Hochschule nicht erfüllt. In den Testungen und den Arbeitsbeobachtungen zeigt sich ein intellektuell ansprechbarer wie auch eloquenter junger Mann, der etwas durcheinander und wenig strukturiert an seiner neuen Lebensgestaltung arbeitet. Aufgrund der Schwierigkeiten, sich auf ein neues Berufsziel auszurichten, wird eine Verlängerung der beruflichen Abklärung für weitere zwei Monate von der IV zugesprochen. 
      Herr X. schildert zur beruflichen Abklärung: «Ich hätte es alleine nicht geschafft, mich mit beruflichen Inhalten auseinander zu setzen. Ohne die berufliche Abklärung wäre ich zu Hause in eine ungünstige Stimmungslage verfallen und hätte überhaupt nichts gemacht. Innerhalb der beruflichen Abklärungen wurden mir Arbeitsaufträge erteilt, ich hatte eine gute Berufsberaterin, die mir alles unmittelbar erklärte und Arbeitsagogen, die mich stützten».

      Herr X. hält am sozialen Bereich fest und überprüft mehrere Optionen für sich, unter anderem auch das Nachholen der Berufsmaturität mit anschliessendem Studium in Sozialarbeit, die Ausbildung zum Sozialpädagogen auf Stufe höhere Fachschule und weitere soziale Ausbildungen (z. B. Arbeitsagoge). Während der vertieften Abklärung findet Herr X. ein Praktikum in der Jugendarbeit, das er drei Monate nach Beendigung der beruflichen Abklärung antreten kann. Herr X. fühlt sich jedoch trotz Praktikumszusage noch unsicher und verloren zu Hause. Im Praktikum ist er nach Arbeitstagen später oft erschöpft und erfährt deshalb ein emotionales Auf und Ab. Die Invalidenversicherung übernimmt ein Jobcoaching, das durch die Rehaklinik Bellikon geleistet wird, die Psychotherapie wird erneut aufgenommen. Das Praktikum in der Jugendarbeit wird aufgrund der Erschöpfung von einem Pensum von 80 % auf 60 % reduziert. Herr X. hat somit Zeit für die Erholung und die Weiterführung seiner Therapien. Das Jobcoaching wird auf seinen Wunsch hin abgeschlossen. 

      Ende 2022 verzweifelt er aber doch erneut an den Therapien und befürchtet einen Rückschritt in seiner Funktionalität. Er wird daher zu einer weiteren stationären Rehabilitation aufgenommen. Nach zwei Wochen besteht eine wesentlich bessere Gehleistung. Er kann wieder entlassen werden. 

      Herr X. besteht das Aufnahmeverfahren zum Sozialpädagogen an einer Schweizer Fachschule. Er braucht jedoch ein weiteres Jahr Entwicklungszeit, bevor er die Studienleistung in Kombination mit dem Ausbildungspraktikum sicher stemmen kann. Herr X. ist zuversichtlich und guten Mutes, dass die Ausbildung mit Beginn im Sommer 2024 zu einer guten Berufsbasis führt und freut sich bereits auf künftige berufliche Entwicklungen. Aufgrund der Erschöpfung durch die andauernde Ausgleichsleistung, sieht er für sich selbst aber kein höheres Arbeitspensum als 80 %. Herr X. wohnt heute alleine und versorgt auch seinen Haushalt selbst, braucht jedoch aufgrund der bleibenden motorischen Einschränkungen mehr Zeit dafür. 

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      Abb. 1: Ganzheitliche Rehabilitation als Kombination von stationären und ambulanten Angeboten und der beruflichen Integration am Beispiel eines Patienten mit Neuroborreliose

      Zusammenfassende Bemerkungen

      Die Entwicklung von Herr X. zeigt anschaulich, wie wertvoll und wichtig die Konzertierung einzelner Therapieleistungen in unmittelbarer Kombination mit beruflichen Eingliederungsbemühungen in der Komplexfallbetreuung sind. Eine erfolgreiche Rehabilitation bis in die Erwerbstätigkeit ist bei hohen Anforderungen nur dann (nachhaltig) möglich, wenn sich alle medizinischen Fachpersonen einer professionellen modernen Rehabilitation und die Eingliederungsfachpersonen unter einem Dach befinden und auch unkompliziert miteinander in Kontakt treten können. Oft ist der spontane Austausch notwendig, da das fragile Gleichgewicht während der Rehabilitation immer wieder mit verschiedenen Interventionen (z. B. auch mit Psychotherapie) gestützt werden muss. 

      Als Hürde für eine fachgerechte individuelle Förderung bleibt, dass in den jeweiligen Rehabilitationstarifen nicht alle Unterstützungs- und Förderleistungen inbegriffen sind, welche für eine effektive und nachhaltige (Neuro-)Rehabilitation erforderlich sind. Umso bedeutender bleibt die Ergänzung mit angepassten Eingliederungsprodukten der Invalidenversicherung, um die Lücken zwischen der Neurorehabilitation und der beruflichen Integration (z. B. mit Integrationsmassnahmen [6] oder einem Neurocoaching [14] zu schliessen und den medizinischen Rehabilitationserfolg zu vervollständigen. 

      Literaturverzeichnis

      1. Göbel, F. Die Bedeutung von Arbeit und Beruf für Menschen mit Behinderung. Zur beruflichen Sozialisation als Indikator für Vollwertigkeit eines Individuums in der Gesellschaft. Studienarbeit. München. GRIN-Verlag. 2005.
      2. Watzke S, Brieger P. Neuropsychologische Diagnostik in der beruflichen Rehabilitation schizophrener Menschen. Fortschr Neurol Psychiat. 2004;72(11):643-651. 
        DOI: 10.1055/s-2003-812449
      3. Bennet D. Die Bedeutung der Arbeit für die psychiatrische Rehabilitation. In: M. v. Cranach, A. Finzen (Hrsg.), Sozialpsychiatrische Texte. Psychische Krankheit als sozialer Prozess. Psychiatrische Epidemiologie. Berlin. Springer-Verlag. 1972:68-78. 
      4. Jahoda M. Wieviel Arbeit braucht der Mensch. Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim. Beltz-Verlag. 1983.
      5. Berth H, Förster P, Brähler E. Gesundheitsfolgen von Arbeitslosigkeit und Arbeitsplatzunsicherheit bei jungen Erwachsenen. Gesundheitswesen. 2003;65(10):555-560. DOI: 10.1055/s-2003-43026
      6. Lauenroth N, Swart E. «Perspektivlosigkeit ist meine Krankheit» - Subjektive Empfindungen von Langzeitarbeitslosen. Gesundheitswesen. 2004;66:765-769.
      7. Weber A, Hörmann G, Heipertz W. Arbeitslosigkeit und Gesundheit aus sozialmedizinischer Sicht. Dtsch Arzteblatt. 2007;104(43):A-2957.
      8. Eppel R, Fink M, Mahringer H. Die Wirkung zentraler Interventionen des AMS im Prozess der Vermittlung von Arbeitslosen. Arbeitsmarktservice Österreich, Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung. Wien. 2016.
      9. Adam St, Amstutz J, Avilés G, Cavedon E, Crivelli L, Ferrari D et al. Explorative Studie zu den Erfolgsfaktoren von Unternehmen in der sozialen und beruflichen Integration. Forschungsbericht 4/16. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Bundesamt für Sozialversicherung. Bern. 2016;49-57.
      10. Schmidlin S, Bühlmann E, Muharremi F, Kobelt E, Champion C. Evaluation der Integrationsmassnahmen zur Vorbereitung auf die berufliche Eingliederung. Forschungsbericht 17/20. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Bundesamt für Sozialversicherung. Bern. 2020. 
      11. Bolliger Ch, Fritschi T, Salzgeber R, Zürcher P, Hümbelin O. Eingliederung vor Rente. Evaluation der Früherfassung, der Frühintervention und der Integrationsmassnahmen in der Invalidenversicherung. Forschungsbericht 13/12. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Bundesamt für Sozialversicherung. Bern. 2012
      12. Da Rui G, Schaufelberger D, Rimmele S. Professionalisierung der Arbeitsagogik. Ein Wirkungsmodell. Publikation der Hochschule Luzern (2015). [Internet]. Verfügbar unter: 
        https://ppdb.hslu.ch/inf2/rm/f_protected.php?f=20160822165919_57bb1347b248a.pdf&n=Artikel_Wirkungsmodell_Arbeitsagogik_HSLU_2015.pdf  (abgerufen am 19.02.2024)
      13. Claros-Salinas D, Greitemann G, Jeske A. Berufliche Neurorehabilitation innerhalb medizinischer Rehabilitationsphasen: Behandlungskonzept und Evaluation anhand katamnestischer Daten. Neurol. Rehabil. 2000;6(2):82-92. 
      14. Rollnik J.D, Platz T, Böhm K-D, Weber R, Wallnesch C-W. Die medizinisch-berufliche Rehabilitation in der Neurologie. Aktuelle Neurologie. 2013;40(05):274-278.

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