Human_with_external_and_internal_carotid_arteries.tif
30. Juni 2023 | von Tobias Brandt, Stefan Engelter, Peter Marx

Medico-legale Aspekte der zervikalen Arteriendissektion

Bei zervikalen Arteriendissektionen besteht für Gutachter die grösste Herausforderung darin, einen spontanen von einem traumabedingten Gefässwandeinriss abzugrenzen. Wir beschreiben klinische und diagnostische Kriterien, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für eine Kausalität mit dem Unfall sprechen.

Inhalt

      PD Dr. med. Tobias Brandt, Teamleiter Versicherungsmedizin, Suva
      Prof. Dr. Stefan Engelter, Neurologie und Neurorehabilitation, Universitäre Altersmedizin
      FELIX PLATTER, Neurologie und Stroke Center Universitätsspital, Basel 
      Prof. Dr. em. Peter Marx, Neurologie, Charité Berlin 

      Einführung

      Im gutachterlichen Kontext besteht bei den zervikalen Dissektionen die grösste versicherungsmedizinische Herausforderung darin, den deutlich häufigeren spontanen Gefässwandeinriss von einem mechanisch ausgelösten resp. einem überwiegend wahrscheinlich traumabedingten, d. h. unfallkausalen, abzugrenzen. Dabei kann bereits die Einschätzung des zeitlichen Zusammenhangs in Einzelfällen schwierig sein. So können die neurologischen Symptome unmittelbar beim oder nach dem Unfall auftreten, nicht selten aber auch erst mit einer Latenz von Stunden oder Tagen bis wenigen Wochen [1−3]. Zum anderen fand sich zumindest bei einem Teil der Betroffenen mit spontanen Dissektionen in wissenschaftlichen Studien eine mögliche genetische Prädisposition in Form von vererblichen ultrastrukturellen Veränderungen des dermalen Bindegewebes sowie der Gefässwände. In Einzelfällen liegen bereits klinische Hinweise auf molekulargenetisch nachweisbare Diagnosen wie ein Marfan- oder Ehlers-Danlos-Syndrom vor [1]. 
      Zervikale Dissektionen infolge von schweren Unfallereignissen, z. B. schweren Verkehrsunfällen oder Stürzen aus grösserer Höhe, mit Schädel-Hirn-Trauma, einschliesslich allfälliger Gesichts- und Halsverletzungen mit zervikalen Wirbelkörperfrakturen, stellen hinsichtlich der Frage der Unfallkausalität eher seltener ein Problem für den Gutachter dar. Schliesslich lassen sich diese oft bereits im initialen Polytrauma-CT diagnostizieren. Schwierigkeiten ergeben sich allenfalls noch in Bezug auf erst zeitverzögert aufgetretene sekundäre Embolien mit Schlaganfallfolge. 
      Kann aber auch ein Bagatelltrauma, z. B. ein leichterer Sturz bei Sportausübung oder ein Kopfanstossen, mit dem hohen Beweisgrad einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit Auslöser einer zervikalen Dissektion sein? Dieser Beitrag fasst zusammen, welche klinischen und diagnostischen Kriterien hier auf Schweizer Rechtsgebiet gemäss UVG eine überwiegende Wahrscheinlichkeit herstellen können im Sinne eines kausalen Zusammenhangs mit dem Unfall. Wir hoffen, damit bei der Beurteilung und Begutachtung im konkreten Einzelfall hilfreiche Anhaltspunkte für oder gegen einen unfallkausalen Zusammenhang zu liefern.

      Diagnostische Sicherung einer traumatischen zervikalen Dissektion

      Versicherungsmedizinisch ist die Grundvoraussetzung für eine mögliche Anerkennung einer traumatischen zervikalen Dissektion eine spezifisch bilddiagnostisch gesicherte überwiegend wahrscheinliche Diagnose. Idealerweise erfolgt dazu der Nachweis eines charakteristischen halbmondförmigen Wandhämatoms in den fettsupprimierten T1-Sequenzen der zervikalen Kernspintomografie (siehe hierzu bitte auch nähere Ausführungen im Suva Medical Artikel «Unfallbedingte Arterienverletzungen») [3, 4]. Hierbei ist zu bedenken, dass ein solcher Hämoglobin-Nachweis erst mit einer Verzögerung von 48−72 Stunden nach dem akuten Unfallereignis bilddiagnostisch möglich ist. Früher, das heisst sofort nach dem Unfallereignis, ist ein Wandhämatom-Nachweis mittels CT-Angiographie (CTA) möglich. Diese bietet zusätzlich die Möglichkeit, angiographisch eine Gefässwandverdickung resp. einen typischen flammenförmigen Gefässverschluss im Bereich der A. carotis interna mehrere Zentimeter distal der Carotisbifurkation oder einen Vertebralisverschluss am Abgang oder im V3-Segment distal der Atlasschleife nachzuweisen (Abbildung 1). Dabei unterscheidet sich die Lokalisation der traumatischen zervikalen Dissektion nicht grundsätzlich von der einer spontanen Dissektion (Abbildung 1) [3, 4]. Hinweise auf einen akuten Gefässverschluss finden sich unter Umständen bereits im Polytrauma-CT, z. B. als einseitig fehlende Vertebralarterie, oder in der Farbduplex-Ultraschallsonografie in Form eines Verschlusssignals oder von Hinweisen auf eine distale Zirkulationsstörung der A. carotis interna resp. einer Vertebralarterie (siehe hierzu bitte auch nähere Ausführungen im Suva Medical Artikel «Unfallbedingte Arterienverletzungen»). 

       Lokalisationen der zervikalen Dissektionen

      Abbildung 1: Lokalisationen der zervikalen Dissektionen 

      Diagnostische und in der Folge gutachterliche Schwierigkeiten können sich in der Kernspintomografie bei der Abgrenzung eines akuten Gefässverschlusses durch thrombogenes Material von einem vollständig gefässkomprimierenden Wandhämatom ergeben. Hier kann die Lokalisation des Gefässverschlusses 2−3 cm distal der Carotisbifurkation für eine Dissektion und gegen einen arteriosklerotischen Gefässverschluss als Ursache sprechen. Allenfalls bleibt der Verlauf abzuwarten, mit einer überwiegend wahrscheinlichen Gefässrekanalisation innerhalb der ersten 4 Wochen und dem möglichen sekundären Nachweis eines längerstreckigen Gefässwandhämatoms im Bereich der distalen A. carotis interna in der Kernspintomographie, wie oben ausgeführt. Ein solcher Gefässwandhämatom-Nachweis kann bei grösseren Wandhämatomen der A. carotis interna auch bis zu 12 Monate nach akuten Dissektionsereignissen noch erfolgen.  

      Besondere diagnostische Schwierigkeiten können sich jedoch ergeben bei der Unterscheidung zwischen dissezierten hypoplastischen Vertebralarterien ohne Wahrscheinlichkeit einer allfälligen Rekanalisation und einem möglichen unfallfremden arteriosklerotischen Verschluss. Hilfreich ist hier die Verschlusslokalisation, d. h. wenn diese nicht einer typischen atherosklerotischen Verschlusslokalisation wie am Vertebralisabgang oder im V3-Segment entspricht (Abbildung 1). Ein weiterer Anhaltspunkt sind korrelierende typische klinische Hinweise, z. B. der akute Beginn mit gut lokalisierbaren, einseitigen stark reissenden Nackenschmerzen [1]. Schwierigkeiten bei der Diagnosesicherung einer Dissektion der hirnversorgenden Arterien im Zusammenhang mit einem Unfall sind dann zu erwarten, wenn keine geeignete unfallnahe Diagnostik durchgeführt wurde. So fehlen leider oft tiefere, also zervikale T1-fettunterdrückte MRI-Sequenzen. Gerade diese können aber zumindest für die Diagnosesicherung eines Carotiswandhämatoms, wie oben erläutert, noch mehrere Monate bis 1 Jahr nach dem Unfallereignis hinweisend sein.  

      Die direkte angiographische Diagnosesicherung einer Dissektion mittels digitaler Subtraktionsangiographie (DSA) ist dank der oben genannten Nachweisverfahren eher selten geworden und beschränkt sich auf Fälle, in denen zu therapeutischen Zwecken eine interventionelle akute Gefässrekanalisation erfolgt. Typische angiographische Zeichen für das Vorliegen einer zervikalen Dissektion ist hierbei ein flammenartig spitz zulaufender Gefässverschluss (sog. Flammenzeichen oder Rat-Tail Sign) oder eine längerstreckige Einengung (sog. String Sign) respektive Spätzeichen einer Dissektion wie das Vorliegen eines Pseudoaneurysmas [1]. 

      Früher wurde das Auftreten zervikaler Dissektionen nach schweren Kopftraumen bei vorliegenden knöchernen Verletzungen mit ca. 1−2 % als eher selten eingeschätzt. Nach Einführung der CT-Traumaspule muss jedoch aktuell von einer deutlich höheren Rate von ca. 6 % ausgegangen werden: Gemäss einer aktuellen prospektiven CT-A Untersuchung an 230 konsekutiven Traumapatienten eines Centers mit einem höherem Traumaschweregrad fand sich eine Inzidenz von 6,5 % zervikaler Dissektionen mit einer Mortalität von 25 % (Abbildung 2 und 3) [4]. Von diesen betrafen 5,2 % die A. carotis interna, davon knapp die Hälfte mit neurologischer Symptomatik, und 1,7 % die Vertebralisarterien, mit neurologischen Defiziten in 25 % der Fälle. Nur ein Patient hatte multiple Dissektionen. Die meisten der Betroffenen waren polytraumatisierte Verkehrsopfer (PW, Motorrad oder Fahrradsturz sowie angefahrene Fussgänger) oder Gestürzte aus einer Höhe von mehr als 3 m. Nur 33 % der von einer Carotisdissektion Betroffenen hatten zervikale Wirbelkörperfrakturen. Im Gegensatz dazu war dies bei allen Vertebralisdissektionen der Fall. Quintessenz dieser prospektiven Untersuchung war, dass mindestens die Hälfte der von einer Dissektion Betroffenen initial neurologisch asymptomatisch waren, mit der Gefahr eines späteren Schlaganfalls und somit der Notwendigkeit eines CTA-Screenings. Dieses sollte in der CT-Traumaspule enthalten sein, da die Prävention einer sekundären arterioarteriellen Embolisation aus dem verletzten Gefässsegment mit einer primären Antikoagulation möglich ist [4]. In einer weiteren, allerdings retrospektiven Monocenterstudie an 145 von einer Dissektion Betroffenen wurde der Versuch unternommen, bilddiagnostische Kriterien zur Unterscheidung einer traumatischen von einer Spontan-Dissektion herauszuarbeiten [5]. Dies kann jedoch unter versicherungsmedizinischen Gesichtspunkten nach unserer Einschätzung hier nur wenig weiterhelfen, da unter den sogenannten spontanen Dissektionen auch solche mit einem geringen Trauma, z. B. durch Sportaktivitäten, subsumiert wurden [5]. Dennoch zeigt diese Untersuchung wiederum die Sensitivität der CT-Angiographie für mögliche bilddiagnostische Dissektionszeichen in Kombination mit typischen klinischen Zeichen auf: Intimaflap, intramurales Hämatom mit einer Gefässwandverdickung und Gefässstenose oder Verschluss [5]. Betroffene mit stumpfem Nackentrauma zeigten in nahezu der Hälfte der Fälle HWS-Frakturen in Kombination mit einer Vertebralisdissektion, häufiger auch in Kombination mit Multigefäss-Dissektionen und einem Intimaflap [5]. Auch wenn letzterer unserer Erfahrung nach eher selten nachweisbar ist, so sind die genannten bildmorphologischen Kriterien als zumindest hinweisend auf eine traumatische Dissektionsursache zu werten. Der Umkehrschluss ist dagegen, wie bereits erwähnt, hier versicherungsmedizinisch nicht möglich. Im Allgemeinen bereitet somit die Anerkennung einer unfallnahen Diagnosestellung einer traumatischen Dissektion in überwiegend wahrscheinlich unfallkausalem Zusammenhang mit schweren Kopftraumen keine grösseren Schwierigkeiten (Abbildung 4).  

      Zervikale Dissektionen, multifaktoriell

      Abbildung 2: Zervikale Dissektionen, multifaktoriell

      Warum treten Dissektionen auf? Was bedeutet ein Unfallkontext in der Beurteilung?

      Unterschiedliche Ätiologie der «Extreme»
      spontan («ereignislos») mit struktureller «Gefässwandschwäche» und ggf. positiver Genetik vs. schweres Trauma mit HWK-Frakturen und Vertebralisdissektion

      Inzidenz traumatischer Dissektionen nach schwerem SHT aktuell auf ca. 6 % geschätzt

      Mechanische Auslöser
      Kontinuum von alltäglicher HWS-Bewegung – Bagatelltrauma – schweres Trauma mit HWK-Fraktur(en)

      Gutachtliche Frage 
      adäquates auslösendes Ereignis (Unfall?) vs. spontan. 
      Prädisposition kein Ausschluss -> Vulnerabilität ggf. erhöht

      Brückensymptome (Schmerz, Horner-Syndrom)
      Je früher nach Ereignis, desto wahrscheinlicher

      Neurologische Folgen (Embolien)
      Intervall von Stunden bis Tagen bis ¬ca. 4 Wochen 

      Abbildung 3: Standortbestimmung

      Traumatische Gefässverletzungen: Stumpfes Trauma (1)

      Abbildung 4: Traumatische Gefässverletzungen: Stumpfes Trauma (1)

      Die spezielle Thematik einer ursächlichen Auslösung durch eine Manipulationsbehandlung der Halswirbelsäule durch einer ruckartige, d.h. plötzliche Überstreckung oder durch zervikale Rotationsmanöver (Abbildung 5), die in wissenschaftlichen Untersuchungen ebenfalls als potentiell traumatische Assoziation resp. auch Ursache diskutiert wurden [1, 2], soll hier nicht Gegenstand der vorliegenden Ausführungen sein, da sie eine Haftpflichtproblematik und keine eigentliche Unfallthematik darstellt. Erwähnt sei nur die Problematik der Fragestellung der zeitlichen Abfolge, ob z. B. eine spontane Vertebralisdissektion durch die Symptomatik zu einer zervikalen Manipulationsbehandlung führte bei allenfalls fehlender vorheriger Aufklärung und diagnostischer Abklärung mit potentieller sekundärer Verschlimmerung, oder ob die zervikale Manipulationsbehandlung selbst eine Dissektion ausgelöst hat [6]. 

      Bild4.tif

      Abbildung 5: Traumatische Gefässverletzungen: Stumpfes Trauma (2)

      Adäquates Traumaereignis

      Neben der gesicherten bilddiagnostischen Abklärung einer Dissektion und der typischen Klinik mit lokalen Symptomen und allenfalls neurologischen Defiziten ist die gutachterliche Frage nach einem adäquaten Trauma zu klären. Wie bereits ausgeführt, sind direkte Schädigungsereignisse, z. B. zervikale Messerstiche, Handkantenschläge oder Strangulationen, für die Anerkennung einer traumatischen Dissektion in der Regel unproblematisch, sofern sie in engem zeitlichem Zusammenhang mit den oben genannten klinischen Zeichen stehen (Abbildung 4) [6]. Biomechanisch besonders geeignete Mechanismen für eine indirekte traumatische Dissektion sind insbesondere abrupte Beschleunigungsbewegungen der Halswirbelsäule mit einer Hyperrotation und/oder Retroflexion. Dies allenfalls auch in Kombination mit einer zervikalen Hyperextension, bei der Gefässsegmente in besonderer Weise überdehnt respektive potenziell zusätzlich an einem Knochensegment wie dem der zervikalen Querfortsätze der Halswirbelsäule geschädigt wurden (Abbildung 5) [1, 2, 6]. Der Schädigungsort einer traumatischen Dissektion unterscheidet sich dabei, wie oben bereits erwähnt, nicht grundlegend von dem einer Spontan-Dissektion ohne dokumentierte mechanische Schädigungsursache. Dieser liegt bei Carotisdissektionen üblicherweise einige Zentimeter distal der Carotisbifurkation bis in den Übergang in die Schädelbasis. Bei Vertebralisdissektion liegt er entweder im extrakraniellen V2-Segment oder im Bereich der Atlasschleife (V3-Segment) (Abbildung 1).  

      Stauchungen der Halswirbelsäule oder Kopfanpralltraumata sind dagegen eher nicht zum Auslösen einer Dissektion geeignet [6]. Häufig in der wissenschaftlichen Literatur beschriebene Bagatelltraumata wie Sportunfälle, die nach dem Schweizerischen UVG als Unfallereignisse anerkannt werden können, sind vielfältig im Ablauf. Bedeutsam sind insbesondere Sturzereignisse jeder Art, besonders häufig Ski-, Berg- oder Verkehrsunfälle, vor allem Motorrad- und Fahrradstürze mit Traumata im Kopf/Halsbereich, Autounfälle mit nicht angegurteten Personen oder im Rennsport, aber auch Gewaltanwendungen mit direkten Gefässverletzungen [2, 3].  

      Liegt aktenkundig ein biomechanisch geeignetes Rotations- oder Hyperextensionstrauma der Halswirbelsäule in zeitlich engem Zusammenhang (d. h. in der Regel innert max. einem Monat) mit dem Beginn einer akuten Gefässdissektion der A. carotis interna oder der Vertebralarterien vor, so wird ein unfallkausaler Zusammenhang eher wahrscheinlich anzunehmen als abzulehnen zu sein. Von dieser Prämisse wäre auf Schweizer Rechtsgebiet auch dann nicht ohne besonderen Grund abzuweichen, wenn eine biologische Risikoprädisposition, z. B. eine erbliche Bindegewebserkrankung, vorhanden ist, da eine solche nicht regelhaft zu spontanen Dissektionen führt und da auch hier nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einer Bedeutungslosigkeit eines grundsätzlich geeigneten biomechanischen Ereignisses auszugehen ist [1]. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit eines kausalen Zusammenhangs proportional zur mechanischen Heftigkeit mit Einfluss auf Rotation und Hyperreklination der Halswirbelsäule nachzuweisen [2, 3] und bleibt daher letztlich eine Einzelfallbetrachtung. Bei Verkehrsunfällen sollte in diesem Zusammenhang die Einholung eines biomechanischen Zusatzgutachtens zur besseren Einschätzung der mechanischen Auswirkung des Unfalls in Erwägung gezogen werden.  

      Abzugrenzen von regelwidrigen biomechanischen Unfallereignissen wie Stürzen sind dabei alltägliche, d. h. nicht unfalldefinierte, Kopfroutinebewegungen auch in Hyperrotation oder Hyperreklination, wie das plötzliche Nach-hinten- oder Nach-oben-Schauen ohne einen regelwidrigen Ablauf wie einen Sturz. Allenfalls mögliche mechanische Triggermechanismen für eine zervikale Dissektion sind daher keinesfalls gleichzusetzen mit einer unfallkausalen Schädigung [6]. Voraussetzung hierfür ist die juristisch-administrative Anerkennung eines gemeldeten Ereignisses als Unfall und die versicherungsmedizinische Feststellung, dass die Auslösung einer bestimmten zervikalen Dissektion mit überwiegender Wahrscheinlichkeit durch dieses spezifische Unfallereignis erfolgte, welches zur Anerkennung in Unfallzusammenhang gemäss UVG als «nicht wegdenkbar» oder zumindest als überwiegend wahrscheinlich kausal eingeschätzt werden muss. Dies setzt bei traumatischen zervikalen Dissektionen einen unmittelbaren resp. sehr engen (max. innert ca. 24−48 Stunden) zeitlichen Zusammenhang des Beginns der genannten Brückensymptome von sofort mit dem Unfallereignis bis wenige Stunden danach voraus. Dieser enge zeitliche Zusammenhang ist insbesondere von Bedeutung für die Anerkennung leichter Bagatelltraumen wie Sportunfällen mit leichten Stürzen ohne Fraktur. 

      Zeitlicher Zusammenhang traumatische Dissektion und passende klinische Warnzeichen (Brückensymptome)

      Die bilddiagnostisch gesicherte Diagnose einer zervikalen Dissektion ist jedoch in Assoziation mit möglichen vorangegangenen mechanischen Auslösefaktoren noch nicht gleichbedeutend mit einer beweisrechtlich ausreichend gesicherten traumatischen Ursache. Dies gerade angesichts deutlich häufiger spontan auftretender Dissektionen, bei denen auch bei bester und einschlägiger Befragung der Betroffenen in grossen Kollektiven (in ca. 60 %) kein besonderes mechanisches Triggerereignis identifizierbar war [2]. Vielmehr gilt es im versicherungsmedizinischen Kontext, den zeitlichen Zusammenhang von angeschuldigtem möglichem Unfallereignis und der Erstpräsentation einer wahrscheinlich spezifischen Dissektionssymptomatik zunächst zu evaluieren. Durch die plötzlich einsetzende und gut lokalisierbare Schmerzhaftigkeit der Gefässwände auf der Grundlage der vegetativen Innervation zeigen etwa drei Viertel aller Betroffenen unmittelbar nach dem Trauma Nacken- oder Kopfschmerzen (Abbildung 2), die meist als ipsilateral und hinsichtlich der Schmerzqualität als stechend bis reissend definiert werden [1, 6]. Die charakteristisch einseitigen Gefässschmerzen im Nackenbereich halten zumeist mehrere Wochen bis wenige Monate im Anschluss an eine Dissektion an. Klinisch auf eine Dissektion hinweisend ist ein ipsilaterales Horner-Syndrom, welches im Regelfall als ein klinisch überwiegend wahrscheinlicher Nachweis für eine Carotisdissektion zu bewerten ist (siehe hierzu auch nähere Ausführungen im Suva Medical Artikel «Unfallbedingte Arterienverletzungen»). Es ist hier jedoch zu beachten, dass ein Horner-Syndrom insbesondere bei exzentrischem Wandhämatom vorkommt, dagegen bei akuten Gefässverschlüssen durch eine Carotisdissektion häufig fehlt [1]. Wegweisend für die Diagnose insbesondere einer Carotisdissektion sind klinisch ebenfalls charakteristische singuläre Hirnnervenausfälle, etwa eine einseitige periphere Zungenlähmung [1]. Weitere fakultative neurologische Defizite beziehen sich auf das jeweils betroffene vaskuläre Versorgungsgebiet: Bei der A. carotis interna eine monokuläre Sehstörung (Amaurosis fugax) oder kontralaterale Halbseitenzeichen, bei einer Vertebralisdissektion Schluckstörungen oder Schwindel, allenfalls auch in Kombination mit Hirnstammdefiziten oder Gesichtsfeldausfällen.  

      Typische Lokalsymptome wie die oft pulsierenden Gefässschmerzen, ein pulssynchrones homolaterales Ohrgeräusch, ein Horner-Syndrom oder auch Hirnnervenausfälle – setzen in der Regel unmittelbar oder im Abstand von wenigen Stunden nach einem potentiell auslösenden Traumaereignis ein und müssen als zeitlicher Marker für eine akute Gefässschädigung im Sinne des Einrisses gewertet werden. Für die fakultativen neurologischen Defizite gilt dies nicht. Diese werden durch spätere Embolisationen oder hämodynamisch verursacht, in Zusammenhang mit einer höhergradigen Flussbehinderung durch eine stenotische Gefässverengung oder einen Verschluss durch die Dissektion (Abbildung 2). Hier ist eine grössere zeitliche Latenz von Stunden bis wenigen Tagen, seltener auch einigen Wochen häufiger.  

      Daraus folgt: Je enger die zeitliche Latenz zwischen Brückensymptomen und möglichem geeignetem Schädigungsereignis ist, umso wahrscheinlicher ist ein unfallkausaler Zusammenhang anzuerkennen, wobei die obere Zeitgrenze allgemein auf 4 Wochen eingeschätzt wird [6]. Ausnahmen von dieser oberen Zeitgrenze als Verfahrensregel können Fälle darstellen, bei denen ein überwiegend wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen einem eindeutig biomechanisch geeigneten direkten Gefässtrauma, z. B. einem Handkantenschlag, und einer Carotisdissektion besteht oder bei denen zeitlich sofort oder wenige Stunden danach ein Gefässschmerz im Sinne eines Brückensymptoms einsetzte, gegebenenfalls in Kombination mit einem Horner-Syndrom als Zeichen einer lokalisierten Gefässverletzung [6]. Auch stark pulsierende unilaterale Kopfschmerzen, seitengleich zu einer Dissektion der distalen A. carotis interna, oder ein unilateraler pulsierender Tinnitus können bei der gutachterlichen Bewertung klinisch charakteristische Zeichen für eine akute Gefässdissektion im Sinne von Brückensymptomen darstellen.  

      In der Aktenlage sollten hierbei immer die Angaben der Versicherten aus den «ersten Stunden» nach dem Unfallereignis durchgesehen werden: Die Unfallmeldung nach UVG, wenn vorliegend die unfallnahe Notfalluntersuchung (häufig wird die Notfallstation aufgesucht wegen so noch nie gehabten, starken «reissenden» und zumeist einseitigen Nackenschmerzen, allenfalls akutem Horner-Syndrom mit Angabe enge Pupille/hängendes Augenlid), gegebenenfalls der Dokumentationsbogen für die Erstkonsultation nach kranio-zervikalem Beschleunigungstrauma mit den gut strukturierten Beschwerdeangaben, und, falls vorliegend, der erste neurologische Untersuchungsbefund neben der gesamten bildgebenden Diagnostik. 

      Korrespondenzadresse

      Facharzt für Neurologie, FMH
      PD Dr. Tobias Brandt
      Teamleiter Versicherungsmedizin
      Suva
      Piazza del Sole 6
      6501 Bellinzona

      Literaturverzeichnis

      1. Debette S, Leys D. Cervical-artery dissections: predisposing factors, diagnosis, and outcome. Lancet Neurol. 2009;8(7):668-78 
      2. Engelter ST, Grond-Ginsbach C, Metso TM et al. Cervical artery dissection: Trauma and other potential mechanical trigger events. Neurology. 2013;80:1950-1957 
      3. Engelter ST, Traenka C, Grond-Ginsbach C et al. Cervical Artery Dissection and Sports. Front Neurol. 2021;12:663 
      4. Schicho A, Luerken L, Meier R et al. Incidence of traumatic carotid and vertebral artery dissections: results of cervical vessel computed tomography angiogram as a mandatory scan component in severely injured patients. Ther Clin Risk Manag. 2018;14:173-178.  
      5. Sporns PB, T. Niederstadt, W. Heindel et al. Imaging of Spontaneous and Traumatic Cervical Artery Dissection. Clin Neuroradiol. 2019;29(2):269-275. 
      6. Marx P, Widder B. Ischämische Insulte als Unfallfolge: Dissektionen. In: Neurowissenschaftliche Begutachtung. 3. Auflage. Stuttgart: Georg Thieme-Verlag. 2018:507-508. 

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