Leben für die Sicherheit
Kaum jemand, der mit Sicherheit und Prävention zu tun hat, findet Zeit, sich mit der eigenen Rolle zu beschäftigen. Wir haben drei Sicherheitsprofis zum Gespräch getroffen und gefragt, was sie an ihrer Arbeit schätzen und ob sie manchmal auch verzweifeln. Lesen Sie hier Teil 1 des Roundtables.
Inhalt
Der Roundtable fand Mitte September 2024 statt. Diese drei Personen haben teilgenommen:
Rollen im Betrieb
Wir sprechen heute unter anderem über eure Rollen im Betrieb. Ihr habt euch selbst als Anlaufstelle, Dienstleisterin, Google, Helfer, Nervensäge und Umsetzerin bezeichnet. In welcher Rolle fühlt ihr euch am wohlsten?
Natascha: Ich finde die Anlaufstelle am besten. Das sollten wir für die Mitarbeitenden sein.
Beat: Ich bin Google, denn man kann mich alles fragen, und ich weiss meistens eine Antwort. Ich sehe mich zudem als Dienstleister und Umsetzer.
Gitte: Ich fühle mich überall wohl.
Sogar als Nervensäge?
Gitte: Sogar als Nervensäge – mein CEO kann das bezeugen.
Niemand will Polizei spielen. Warum?
Gitte: Die Polizei sucht Schuldige. Als Sicherheitsbeauftragte (SiBe) lernst du bei der Unfallabklärung von Beginn weg: Suche nach Möglichkeiten, um Unfälle zu verhindern. Nicht nach Schuldigen.
Natascha: Die Polizistenrolle stünde zudem im Widerspruch zu den anderen. Niemand geht zur Polizei und sagt: Ich habe etwas falsch gemacht. Was würdet ihr mir raten?» Wir sind eine vertrauensvolle Anlaufstelle.
Welche Rolle nimmt man denn ein, wenn man STOPP sagt?
Beat: Ganz klar die des Helfers. Mit dem STOPP unterstütze ich die Mitarbeitenden dabei, am Abend wieder gesund nach Hause gehen zu können. Ich gehe nicht auf die Baustelle, um herumzubrüllen. Ich frage: «Warum machst du das so?», damit ich es verstehen und helfen kann.
Gitte: Das «STOPP, komm von der kaputten Leiter herunter» ermöglicht genau das: zu schauen, warum jemand etwas so tut. Oft möchten die Mitarbeitenden dem Unternehmen etwas Gutes tun. Sie sagen sich: «Wenn ich das noch schnell mache, sind wir früher fertig.» Niemand kommt am Morgen ins Geschäft und sagt: «Heute will ich mein Bein brechen.»
Fehlt euch eine Rolle, um noch mehr Wirkung erzeugen zu können?
Natascha: Nein. Ich habe das Privileg, in einer Firma zu arbeiten, in der die Geschäftsleitung Wert auf unsere Meinung legt. Unsere Expertise kann einen wesentlichen Beitrag zur Prävention leisten und somit auch die Reputation des Unternehmens schützen.
Gitte Björn, SR Technics
«Du lernst von Beginn weg: Suche nach Möglichkeiten, um Unfälle zu verhindern. Nicht nach Schuldigen.»
Vielfältige Kompetenzen
Ihr habt aufgeschrieben, welche Kompetenzen SiBes haben sollten, nämlich Ehrlichkeit, Empathie, Fachkompetenz, Lernbereitschaft, Offenheit, Organisationstalent, Rückgrat, Strukturiertheit, Vertrauen, Vorbild sein, zuhören können. Warum genau diese?
Beat: Ohne Fachkompetenz könnte ich auf der Baustelle nicht erkennen, ob die Mitarbeitenden ihre Arbeit sicher machen und welche Lösungen auch denkbar wären.
Natascha: Ich finde Rückgrat zentral. Ich weiss nicht, ob ich je wieder zur Arbeit gehen könnte, wenn sich jemand verletzt hat, nur weil ich Angst hatte, die Person mit den Sicherheitsanweisungen und Regeln zu verärgern. Auch Lernbereitschaft ist wichtig: Weil mein Chef diese bei mir gespürt hat, hat er mich als 21-Jährige eingestellt. Ohne geht es in diesem Job nicht, denn jedes Jahr ändern sich die Regeln. Mit neuen Maschinen tauchen auch immer wieder neue Gefahren auf.
Gitte: Ich arbeite mit 59 verschiedenen Kulturen zusammen, jede ist ein bisschen anders. Mit Empathie merke ich, wo der Schuh drückt. Plappere ich etwas aus, das mir jemand unter vier Augen gesagt hat, ist das Vertrauen kaputt. Dann kommt niemand mehr zu mir.
Gibt es irgendwo in der Schweiz eine Person, die all diese Kompetenzen abdecken kann?
Gitte: Vieles bringt man schon mit, einige Kompetenzen kann man lernen. Gute SiBes bringen zum Beispiel Empathie mit. Niemand geht in einen Suva-Kurs nach Luzern und ist nachher plötzlich empathisch.
Natascha: Arbeitssicherheit ist kein Beruf, nach dem die Leute schreien. Oft haben die SiBes persönliche Erfahrungen mit Unfällen gemacht und wollen sich bewusst für die Sicherheit engagieren. Sie bringen also tatsächlich einiges mit.
Beat Eggimann, Volken Group
«Mit dem STOPP unterstütze ich die Mitarbeitenden dabei, am Abend wieder gesund nach Hause gehen zu können.»
Schattenseiten des Berufs
Habt ihr auch schon gesagt: «Mir reicht es, ich schmeiss meine Arbeit hin»?
Gitte: Das kommt mir bekannt vor.
Beat: Wenn ich einen Bauarbeiter auffordere, seinen Helm anzuziehen und nach fünf Minuten ist sein Kopf wieder ungeschützt, finde ich dies schon mühsam.
Welche Strategien habt ihr gegen das Aufhörenwollen?
Beat: Erstens ist Sicherheit meine Leidenschaft, dafür lebe ich und das gebe ich nicht einfach so auf. Zudem nehme ich mehrmals pro Jahr eine Woche Ferien und suche meine Ruhe bei meiner zweiten Leidenschaft, dem Tauchen.
Gitte: Das ist praktisch, da «schnorret» auch keiner unter Wasser.
Beat: Ganz genau. Danach stecke ich solche Situationen wieder besser weg. Im konkreten Fall mit dem fehlenden Helm gab es zuerst eine Sitzung mit der Person, dem Abteilungsleiter und dem Personaldienst, anschliessend eine schriftliche Verwarnung. So etwas mache ich nicht gerne. Aber durch diese Massnahme verbesserte sich die Einhaltung der Helmtragepflicht auf den Baustellen merklich.
Natascha: Nach nur zwei Jahren im Job habe ich noch nicht so viele schwierige Momente wie ihr beiden erlebt. Aber auch im Labor trifft man punktuell auf Personen, die «vergessen», den Laborkittel anzuziehen. Meine Strategie ist, mich an den positiven Feedbacks zu orientieren. Zum Beispiel, wenn jemand sagt: «Danke, dass du nach meinem Unfall so gut auf mich geschaut hast.» Oder die Geschäftsleitung, welche sich nach einem grösseren Audit bei uns bedankt und wertschätzt, dass wir sie mit unserer Expertise und Fachkompetenz unterstützen konnten.
Gitte: Ich finde meinen Ausgleich in der Freizeit. Mir geht es nahe, wenn im Job Unfälle passieren oder es jemandem gesundheitlich schlecht geht. Dann frage ich mich, ob ich etwas falsch gemacht habe oder mehr hätte tun müssen. Ich tausche mich in solchen Situationen mit einer Vertrauensperson aus und erzähle, was gerade in mir vorgeht. Das hilft mir enorm.
Natascha Schoch, IBM Research
«Mein Partner lacht mich aus, wenn ich im Ausgang bei einem Defibrillator sofort anhand des Datums checke, ob er noch einsatzfähig ist.»
Sonnenseiten des Berufs
Woran merkt ihr, dass ihr mit eurer Arbeit Mehrwert schafft?
Natascha: Zu Beginn meiner IBM-Zeit gingen viele Mitarbeitende mit ihren Sicherheitsfragen ausschliesslich zu meinen männlichen Kollegen. Ich war neu, die jüngste Mitarbeiterin und hatte wenig Erfahrung – und landete in der Forschungswelt, einer Männerdomäne. Unterdessen habe ich gemerkt, dass ich die Anlaufstelle für Frauen im Betrieb geworden bin. Darauf bin ich sehr stolz.
Beat: Ich erkenne es an der Dankbarkeit. Wir haben aktuell eine Baustelle mit dauerhaft hoher Lärmbelastung. Bei der Geschäftsleitung habe ich rasch grünes Licht für einen individuell angepassten Ohrenschutz für alle Mitarbeitenden erhalten. Die Dankbarkeit der Mitarbeitenden kam tief aus dem Herzen und hat mich berührt.
Gitte: Ich merke es, wenn die Mitarbeitenden zu mir kommen, bevor es zu einem Zwischenfall kommt, damit wir gemeinsam nach Lösungen suchen können. Und natürlich an den rückläufigen Unfall- und Absenzzahlen.
Bitte komplettiert diesen Satz: «Mich braucht es nicht mehr, wenn …»
Natascha: … niemand mehr arbeitet.
Gitte: … alle so denken wie wir SiBes.
Beat: Ich glaube nicht, dass es uns irgendwann nicht mehr braucht.
Beat Eggimann, Volken Group
«Mein Ansporn: Ich will nicht, dass jemand anderem etwas so Schlimmes passiert, wie mir mit 18 Jahren.»
Energie tanken
Woraus schöpft ihr Kraft?
Gitte: Eindeutig durch den Austausch mit den Leuten. Ich gehe einfach in den Betrieb raus und suche den Kontakt. Hin und wieder kommt jemand auf mich zu und bedankt sich für etwas. Es kam auch schon vor, dass ich gedacht habe: «Oh, das habe ich gemacht? Das war mir gar nicht so bewusst.»
Natascha: Es mag eine Generationenfrage sein, ich weiss es nicht. Bei mir ist es auf jeden Fall so: Seit Abschluss meiner Lehre ist mein Vorsatz, nie in einer Firma zu arbeiten, in der ich nicht glücklich bin. Ich muss auf dem Weg zur Arbeit keine Freudensprünge machen. Aber ich bleibe nur, wenn ich grundsätzlich zufrieden und glücklich bin. In meinem aktuellen Job bin ich das.
Und wenn es dir doch schlecht geht, was hilft dir dann?
Natascha: An einem solchen Tag gehe ich am Mittag raus in einen Park und beschäftige mich mit dem, was mich als Menschen glücklich macht. Ich atme durch, distanziere mich und gehe dann wieder zurück.
Beat: Als ich gerade mal 18 Jahre alt war, wurde ich in einen tödlichen Unfall verwickelt. Es folgte eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung. Das Gericht bestätigte zum Glück, dass mich bei diesem Drama keine Schuld traf. Aus diesem Erlebnis habe ich eines gelernt: Ich will nicht, dass jemand anderes auch so etwas erleben muss. Das ist seither mein Ansporn.
Natascha: Vor allem, wenn es vermeidbar gewesen wäre. Es gibt viele Situationen im Leben, die nicht vermeidbar sind. Aber es gibt auch so viele, bei denen man etwas tun kann.
Beat: Und es gibt so vieles, das man tun kann: so viele verschiedene Möglichkeiten, um die Menschen zu schützen.
Setzt ihr diese emotionalen Geschichten in eurer Kommunikation im Unternehmen ein?
Natascha: Mit Bedacht, denn es ist ein schmaler Grat zwischen dem Darstellen der Realität und Angstmacherei. Ist Angst im Spiel, passieren noch mehr Unfälle.
Gitte: Da bin ich einverstanden, ich benutze diese Geschichten aber schon ab und zu. Zum Beispiel wenn ich sage: «Willst du wirklich zu jemandem nach Hause gehen müssen mit der Botschaft, dass der Partner von der Arbeit nicht mehr zurückkommt?»
Beat: Für mich ist es nicht ein Angstmachen. Sondern die Aussage, dass ich mich um jemanden sorge. Im Sinne von: «Ich will nicht, dass dir das auch passiert.»
Natascha: Ich finde, unsere Berufsgruppe hat sowieso einen etwas anderen Blick auf die Welt. Mein Partner lacht mich jeweils aus, wenn ich im Ausgang in Zürich einen Defibrillator sehe und sofort anhand des Datums checke, ob er noch einsatzfähig ist. Oder mich in den Ferien darüber aufrege, dass der Feuerlöscher nicht richtig platziert ist.
Natascha Schoch, IBM Research
«Oft haben die SiBes persönliche Erfahrungen mit Unfällen gemacht und wollen sich bewusst für die Sicherheit engagieren.»
Ein Wunsch frei
Bald ist Weihnachten. Was wünscht ihr euch für die Sicherheit in eurem Betrieb?
Natascha: Die hohen Anforderungen an Reportings können manchmal eine Herausforderung sein. Ich wäre froh, wenn wir ab und zu mehr Fokus auf Kernaufgaben und Sicherheit setzen könnten und weniger auf die internationalen Administrationen.
Beat: Ich hätte gerne ein Budget zur Verfügung, um gewisse Massnahmen noch rascher umsetzen zu können.
Gitte: Ich wünsche mir, dass sich die Mitarbeitenden mehr um ihre eigene Gesundheit kümmern.
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Im zweiten Teil des Roundtables sprechen Gitte, Natascha und Beat darüber, wie sie ihre Kommunikation den verschiedenen Zielgruppen anpassen und ob in ihrem Unternehmen Fehler gemacht werden dürfen.