In einem Punkt ging die Schweiz weiter als die anderen Länder: Sie versicherte schon 1912 auch die ausserberuflichen Unfälle. Dies war von Anfang an umstritten und liess sich nur mit dem Ausschluss von besonderen Gefahren durchsetzen. Doch auch so erwies sich die Nichtbetriebsunfallversicherung als unberechenbar und teuer. Mit den zunehmenden Freizeitmöglichkeiten stiegen die Unfallzahlen, die Kosten waren schon in den Siebzigerjahren höher als in der Berufsunfallversicherung. Darauf reagierte die Suva mit Präventionskampagnen, die heute eines ihrer Markenzeichen sind.
Genf, im Juni 1952: Jacques R. (Name geändert), ein 41-jähriger Taxifahrer, nimmt ein Liebespärchen nach Lausanne mit. Die junge Frau setzt sich im Beifahrersitz auf den Schoss ihres Partners. «Gefährlich schnell» sei das Plymouth-Cabriolet, Jahrgang 1937, unterwegs gewesen, sagten später Augenzeugen. Es war das Privatauto eines Kollegen, was durchaus den damaligen Usanzen unter Taxifahrern entsprach. Allerdings wies es, wie die Polizei in ihrem Rapport feststellte, «bis auf den Stoff abgenutzte» Reifen auf.
«Schon beim Vorbeifahren habe ich gedacht, dass dieses Fahrzeug nicht weit kommen wird.» Ein Augenzeuge im Gerichtsverfahren
Der rechte Vorderreifen war es denn auch, der bei einer Geschwindigkeit zwischen 80 und 100 Stundenkilometern platzte. In der Folge kam das Fahrzeug von der Strasse ab, wurde von einem Zaun auf die Fahrbahn zurückgeschleudert, überschlug sich und blieb liegen. Die drei Insassen kamen mit leichten Verletzungen davon.
R., als Taxifahrer bei der Suva versichert, meldete den Schaden der Suva. Diese kürzte die Versicherungsleistungen wegen Grobfahrlässigkeit um 30 Prozent. Vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht argumentierte R., das Platzen des Reifens sei nicht vorhersehbar gewesen, es handle sich um einen «unglücklichen Zufall». Dem widersprach die Suva, sie pochte auf den kausalen Zusammenhang und erhielt Recht.
Der glimpflich ausgegangene Fall ist typisch für das Risikodenken und das Unfallverständnis in der damaligen Zeit. Und er widerspiegelt die Gefahren des Strassenverkehrs, der für die Suva immer ein besonderes Problem darstellte. Zunächst waren es die Velofahrer, die für die meisten Unfälle verantwortlich waren, dann die Motorrad- und schliesslich die Autofahrer.
«Der Unfall ist durch einen unglücklichen Zufall verursacht worden, nämlich durch das plötzliche und unvorhersehbare Platzen des rechten Vorderreifens.» Jacques R. vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
Dass sich die Suva überhaupt mit Verkehrsunfällen beschäftigte, war dem Willen des Gesetzgebers geschuldet. Schon in den ersten Diskussionen um die Schaffung eines Unfallversicherungsgesetzes, 1889, entschied sich die Schweiz, Neuland zu betreten. Um «die leidige Diskussion und die spitzfindigste aller Erörterungen» zu vermeiden, wann ein Unfall in der Arbeitszeit, auf dem Arbeitsweg oder in der Freizeit geschehen sei, schloss man alle Unfälle in das Obligatorium ein.
Man tat es auch, weil die Experten davon ausgingen, «dass die Nichtbetriebsunfälle in der Hauptsache nicht ernster Natur sein würden». «Die Erfahrung beweist gerade das Gegenteil», stellte die Suva bereits in ihrem ersten Betriebsjahr fest.
Hauptgrund für die hohen Unfallzahlen waren die Velofahrer – während Jahrzehnten. Bis in die Fünfzigerjahre war es das «Fortbewegungsmittel des kleinen Mannes»; ein Viertel bis ein Drittel der Nichtbetriebsunfälle entfielen auf die Velofahrer.
Wo geschehen die meisten Freizeitunfälle? In der hundertjährigen Geschichte der Suva haben sich die Schwerpunkte verlagert. Das waren und sind die hauptsächlichen Risiken:
Die ausserberuflichen Unfälle waren nicht nur teuer, sie waren auch unberechenbar. Weder gab es Erfahrungswerte noch waren Gesetzesmässigkeiten zu erkennen. 1934 rätselte die Direktion noch: «Wir werden noch der Erfahrungen vieler Jahre bedürfen, um sichern Boden unter die Füsse zu bekommen.»
Dass es den «sichern Boden» nicht gab, war den Kritikern schon 1912 bewusst. Sie warnten vor dem «Sprung ins Unbekannte», und mehrheitsfähig war die Vorlage nur, weil sie den Ausschluss von «aussergewöhnlichen Gefahren und Wagnissen» vorsah. Was darunter zu verstehen war, machte der Verwaltungsrat klar. Er nannte es «unmoralische, verwerfliche oder verbrecherische Handlungen» und erliess eine Liste von ausgeschlossenen Gefahren.
Betroffen waren nicht nur Trunkenbolde, Streithähne und Lenker von Kraftfahrzeugen, sondern auch Schwinger, Turner und Fussballspieler. Diese liefen Sturm gegen den Ausschluss, riefen die Gerichte an und hatten schliesslich Erfolg: 1929 wurden sie von der Liste gestrichen.
«Die Ursachen der zahlreichen und schweren Motorrad-Unfälle sind bekannt; man braucht nur die Zeitungen zu lesen … Die dem Motorrad eigenen Gefahren werden durch zwei Hauptfaktoren erhöht, durch die Geschwindigkeitswut und den Alkohol.» Suva-Geschäftsbericht 1929
Vehement wehrte sich die Suva gegen den Einschluss der Motorfahrzeuge in den Versicherungsschutz. 1942 allerdings schritt erneut das Eidgenössische Versicherungsgericht ein und verordnete die Aufnahme von Automobilen, nicht aber von Motorrädern. Damals – insbesondere während des Krieges – war der Automobilverkehr noch unbedeutend. Sehr hoch war hingegen das Unfallrisiko mit Motorrädern.
Letztlich war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die letzte Einschränkung wegfiel. Gesetzesänderungen zwangen die Suva zwischen 1959 und 1968 auch Motorfahrräder, Roller und Motorräder zu versichern. Dies wirkte sich sofort auf die Unfallzahlen und Kosten aus. Innerhalb weniger Jahre war die Belastung für die Suva durch die Nichtbetriebsunfälle grösser als durch die Berufsunfälle.
1985 schloss dies auch die Bagatellunfälle ein. Mit der Revision des Unfallversicherungsgesetzes, die 1984 in Kraft trat, schrumpfte die Liste auf ein Minimum zusammen. Heute gibt es kaum mehr Ausschlussgründe. Selbst die Teilnahme an Unruhen oder Schlägereien zieht lediglich eine Leistungskürzung nach sich.
Um eine Schlägerei ging es in einem aussergewöhnlichen Fall, der für die Suva zu einer Belastungsprobe wurde. Attilio Tonola, ein Gastarbeiter aus Italien, starb 1968 nach einer wüsten Schlägerei in St. Moritz. Alkoholisierte Hilfsarbeiter aus der Schweiz hatten sich mit dem Italiener geprügelt, dabei fielen auch fremdenfeindliche Worte. «Tschau Tschinggeli» und «Ich schlag dich tot» soll einer der Täter gerufen haben.
Italien war in Aufruhr, in den Medien war die Rede von einem «Akt des Rassenhasses» und die italienische Botschaft intervenierte in Bern. Darauf versuchte der Bundesrat, die diplomatischen Wogen zu glätten, indem er die Versicherungsanstalt zu einer Gesetzesumgehung und zu einer freiwilligen Zahlung drängte – durch die Hintertüre.
«Im Bundesrat besteht die Meinung, die Anstalt könnte doch in dieser aussenpolitisch heiklen Angelegenheit freiwillig etwas tun.» Bundesrat Hans Peter Tschudi, 1969
Rechtlich war der Fall klar: Tonola war als Bauarbeiter zwar bei der Suva auch gegen Nichtbetriebsunfälle versichert, doch «Raufereien und Schlägereien» waren von der Versicherung ausgeschlossen. Für die Witwe und die vier Kinder – die wahren Opfer der Auseinandersetzung – wurden deshalb Hinterbliebenenrenten abgelehnt.
«Eine Sonderbehandlung hätte katastrophale Wirkungen auf andere unzufriedene Italiener, aber auch auf Schweizer.» Karl Obrecht, Präsident des Suva-Verwaltungsrates, 1969
Auch nach der Intervention des Bundesrates hielt sich die Suva an den Buchstaben des Gesetzes. Tonola wurde in Italien zu einem Symbol für die Schwierigkeiten von Gastarbeitern in der Schweiz. Unterstützung erhielt die Witwe schliesslich durch eine freiwillige Spende des Schweizerischen Baumeisterverbandes in der Höhe von einer Million Lire.
Unfallverhütung war schon immer ein Eckpfeiler der Suva-Strategie – ausser in der Versicherung der Nichtbetriebsunfälle. Hier fehlten der gesetzliche Auftrag und der marktwirtschaftliche Freiraum. Dies änderte erst in den Sechzigerjahren, als die Unfallzahlen stiegen. Nun wurde die Notwendigkeit von Präventionsmassnahmen offensichtlich.
1960, als die Motorradunfälle in die Versicherung aufgenommen wurden, trat die Suva mit den ersten Kampagnen an die Öffentlichkeit. Broschüren, Faltblätter und Poster dienten der Aufklärung – zunächst in einem abschreckenden oder belehrenden Stil, dann mit Witz und Humor.
Wenn einem plötzlich Elefanten auf der Strasse begegnen oder wenn der Übermut mit dem Velofahrer durchgeht – dann wird es gefährlich. Gut, dass Kinder wissen, was zu tun ist. Helmtragen, «gegen Kopfschmerzen», so bringt es eine frühe Präventionskampagne der Suva auf den Punkt.
1990 wurde die «Freizeitsicherheit» als ein neuer Tätigkeitsbereich der Suva definiert. Sie fokussierte auf die Schwerpunkte der Unfallursachen in der Nichtberufsunfallversicherung: Velofahren, Skifahren und Fussball (sowie die anderen Ballsportarten).
Seit den Neunzigerjahren ist die Prävention von Freizeitunfällen – mit witzigen TV-Spots und Plakatkampagnen – zum sichtbarsten Teil der Suva in der Öffentlichkeit geworden. Es gelang der Suva, die Unfallverhütung in den Köpfen der Menschen zu verankern. 1995 wurde dafür eine eigene Marke – innerhalb der Markenstrategie der Suva – geschaffen: «SuvaLiv».
Wenn sich ein Skiunfall ereignet, dann ist er teuer. Und in über 90 Prozent der Fälle geschieht er ohne Fremdeinwirkung. Deshalb ist Prävention wichtig. 1993 begann die Suva mit ihrer «Warm-up»-Kampagne – direkt auf den Pisten nach dem Motto: «Tanze den ‹Warm-up›, spüre die Wärme».
1988 wurde die erste Velohelm-Aktion gestartet, zehn Jahre später waren bereits 250 000 Helme verkauft. Innerhalb von zehn Jahren wurde der Anteil der Kopf- und Schädelverletzungen halbiert. Mit einer Mischung von Anreizen und Sensibilisierungsmassnahmen gelang es, die Helmtragquote auf 46 Prozent zu erhöhen. Heute setzt die Suva in ihren Präventionsbemühungen auf das sichere Fahrverhalten der Velofahrer.
«Warm up», das heisst «Aufwärmen vor dem Anpfiff», gilt auch im Ballsport. Die meisten Unfälle geschehen beim Fussballspielen, jährlich sind es fast 45 000. Da rund ein Drittel der Fussballunfälle durch Fouls verursacht wird, konzentriert sich die Suva seit Jahren auf die Begleitung von Grümpelturnieren, auf den Fairplay-Gedanken, und sie hat einen Fussball-Test entwickelt – damit sich die Zuschauerränge nicht mit Verletzten füllen.
Unberechenbar und teuer waren die Freizeitunfälle. Hochkomplex und personalintensiv war der entsprechende Verwaltungsaufwand. Vor allem in den Anfangsjahren war die Suva als «Bürokratiemonster» verschrien.
Für die Berechnung der Prämien und Renten – auch in der Berufsunfallversicherung – brauchte es tatsächlich eine Heerschar von Beamten. Heute verfügt die Suva über die modernsten Technologien. Damit schnappt sie auch Versicherungsbetrüger.