Die sichtbare Seite der Suva
Unfallverhütung war schon immer ein Eckpfeiler der Suva-Strategie – ausser in der Versicherung der Nichtbetriebsunfälle. Hier fehlten der gesetzliche Auftrag und der marktwirtschaftliche Freiraum. Dies änderte erst, als die Unfallzahlen stiegen und die Zahl der Betriebsunfälle in den Schatten stellten. Seit den Neunzigerjahren ist die Prävention von Freizeitunfällen – mit witzigen TV-Spots und Plakatkampagnen – zum sichtbarsten Markenzeichen der Suva geworden.
Inhalt
An der Abschiedsfeier für Alfred Tzaut (Abbildung) wandte sich der Präsident des Verwaltungsrates, Hermann Schüpbach, im Sommer 1936 an die Belegschaft der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt und würdigte die Verdienste des abtretenden Gründungsdirektors. Dabei betonte er einen Punkt: Tzaut habe
««die Unfallverhütung zu seiner liebsten Aufgabe gemacht. International habe er der Suva damit zu grossem Ansehen verholfen.»»
Artikel 65 des Kranken- und Unfallversicherungsgesetzes von 1911 erklärte die Unfallverhütung zu einer Aufgabe der Versicherungsanstalt. Allerdings galt die Bestimmung nur für die Verhütung von Betriebsunfällen. In der Nichtbetriebsunfallversicherung war die Prävention nicht vorgesehen.
BfU als Gemeinschaftslösung
In der Gesetzgebungsphase hatte man die Menge und die Schwere der ausserbetrieblichen Unfälle unterschätzt. Mitte der Dreissigerjahre war der Direktion klar, dass in diesem Bereich etwas geschehen müsse. 1937 wurde deshalb die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) geschaffen – ausserhalb des gesetzlichen Rahmens und auf Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Träger der BfU, die ihren Betrieb offiziell erst am 1. November 1938 aufnahm, waren die Suva und die Konferenz der kantonalen Unfalldirektoren. Sie finanzierten auch die Beratungsstelle.
Seit der Revision des Unfallversicherungsgesetzes von 1984 ist die BfU als private Stiftung organisiert. Stiftungspräsident ist jeweils der Direktionsvorsitzende (beziehungsweise der CEO) der Suva. Finanziert wird sie aus den Prämienzuschlägen für die Unfallverhütung. 80 Prozent der Zuschläge gehen an die Beratungsstelle in Bern, 20 Prozent setzen die Versicherungsgesellschaften für ihre eigene Präventionsarbeit ein.
Strafe = Prävention?
Anfang der Sechzigerjahre explodierten die Kosten in der Nichtbetriebsunfallversicherung. Gründe waren der Einschluss der Motorräder in die Versicherung und die generelle Zunahme des Strassenverkehrs.
1964 debattierte deshalb der Verwaltungsrat erstmals seit 1937 wieder über die Verhütung von Nichtbetriebsunfällen. Er beauftragte die Direktion, die
««Gründung eines schweizerischen Sicherheitsinstitutes zu prüfen und abzuklären, inwieweit die Verhütung von Nichtbetriebsunfällen durch die Suva, die nach geltendem Recht keinerlei Kompetenzen auf diesem Gebiete besitzt, oder auf eine andere Art und Weise gefördert werden könnte».»
Zu einem konkreten Antrag kam es nicht.
Im gleichen Jahr drängte die Suva auf eine schärfere Bestrafung von Verkehrssündern – dies im Sinne der Unfallverhütung. Karl Obrecht, Verwaltungsratspräsident der Suva, nahm die entsprechenden Begehren aus dem Verwaltungsrat auf und meinte an der Sitzung vom 23. Juni 1964, dass er «auch dem Wunsch nach strengeren administrativen Massnahmen – Entzug des Fahrausweises – Ausdruck» geben wolle, denn:
««Die Anstalt will ja nicht in erster Linie bestrafen, sondern verhüten!»»
Suva zeigt sich in der Öffentlichkeit
Der nächste Anlauf, die Präventionsarbeit zu intensivieren, erfolgte 1973. Nun lag der Fokus einer Studiengruppe nicht mehr nur auf der «Koordination und Förderung der Bestrebungen zur Verhütung von Nichtbetriebsunfällen», sondern auf der «Förderung des Sicherheitsgedankens schlechthin». Dieser Gedanke wurde einerseits in die Diskussionen um die Revision des Unfallversicherungsgesetzes getragen, das 1976 vorgelegt und 1981 verabschiedet wurde. 1984 trat es in Kraft und stärkte die Prävention in der Nichtberufsunfallversicherung. Andererseits floss der Sicherheitsgedanke in die laufende Öffentlichkeitsarbeit der Suva ein, die seit den Sechzigerjahren an Bedeutung gewann.
In dieser Zeit begann die Suva, Informationsschriften zu publizieren und an Radio- und TV-Sendungen mitzuwirken.
Anfang der Siebzigerjahre nahm sie erstmals an Publikumsmessen wie der Mustermesse in Basel, der Luga in Luzern, dem Comptoir Suisse in Lausanne oder der Artecasa in Lugano teil. Broschüren wie «Sicher Sport treiben» und «Sicher leben» erschienen in Millionenauflagen; jeden Monat veröffentlichte die Suva zudem ein Bulletin der Reihe «Sicherheit».
Durchbruch mit Velohelm-Kampagne
Das moderne, breitenwirksame Zeitalter der Präventionsarbeit begann aber erst 1988 mit der ersten Velohelm-Kampagne. Helme gab es zum Aktionspreis bei den Suva-Agenturen oder im Fachhandel. 6000 Velohelme wurden abgesetzt.
Es war ein bescheidener Anfang, die Kampagne legte aber den Grundstein für die Art und Weise, wie die Suva in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde.
Und sie zeigte, dass sich Geduld in der Präventionsarbeit auszahlte. 1989 wurden bereits 12 000 Helme verkauft, 1990 waren es 25 000, 1997 – nach zehn Jahren – ging der 250 000. Helm über den Ladentisch, Ferdy Kübler überreichte ihn. In der gleichen Zeit halbierte sich der Anteil der Kopf- und Schädelverletzungen bei Velounfällen, die Tragquote stieg von weniger als 1 Prozent auf 14 Prozent.
2001 schlossen sich die Suva und die BfU zu einer gemeinsamen Velohelm-Kampagne zusammen. Längerfristig sollte die Tragquote auf 30 Prozent erhöht werden – ein Ziel, das bereits 2004 erreicht wurde. 2006 waren es sogar 39 Prozent, dann stagnierte die Entwicklung. Heute liegt der Wert bei 46 Prozent.
Auftritte an «Slow-up»-Tagen und eigene Velohelmtage unterstützten die Kampagne. Seit dem Jahr 2010 konzentriert sich die Suva in ihren Präventionsbemühungen auf das sichere Fahrverhalten der Velofahrer. Ziel ist es, Kollisionen mit dem motorisierten Verkehr zu vermeiden. Diese machen rund 20 Prozent der Velounfälle aus. Auftritte an «Slow-up»-Tagen und eigene Velohelmtage unterstützten die Kampagne. Seit dem Jahr 2010 konzentriert sich die Suva in ihren Präventionsbemühungen auf das sichere Fahrverhalten der Velofahrer. Ziel ist es, Kollisionen mit dem motorisierten Verkehr zu vermeiden. Diese machen rund 20 Prozent der Velounfälle aus.
2001: Johnny setzt den Helm auf.
Der junge Schimpanse wirbt mit Witz und Feingefühl für die «Helm yourself!»-Kampagne.
Neuer Bereich: Freizeitsicherheit
1990 wurde die «Freizeitsicherheit» als ein neuer Tätigkeitsbereich der Suva definiert. 1995 wurde dafür eine eigene Marke – innerhalb der Markenstrategie der Suva – geschaffen: «SuvaLiv».
«SuvaLiv» fokussierte auf die Schwerpunkte der Unfallursachen in der Nichtberufsunfallversicherung – auf das Velofahren, Skifahren, auf das Fussballspielen und auf andere Ballsportarten. Mit breitenwirksamen Kampagnen gelang es der Suva, die Öffentlichkeit für die Anliegen der Unfallverhütung zu sensibilisieren.
Analog der Velohelm-Kampagne führte sie eine Schienbeinschoner-Aktion für Fussballspieler durch.
Diese begann 1989 und wurde durch Massnahmen wie die Betreuung von Grümpelturnieren, etwa durch den Einsatz von ausgebildeten Schiedsrichtern, oder die Ausschreibung der Fairplay-Trophy (seit 2004) in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Fussballverband ergänzt.
Jährlich wurden bis zu 210 Grümpelturniere begleitet. 2001 stellte die Suva fest, dass sich die Zahl der Unfälle um 75 Prozent reduziert hatte. 2014 wurde ein Online-Fussballtest entwickelt, der Aufschluss über das individuelle Verletzungsrisiko gibt. Innerhalb von zwei Jahren wurde der Test von mehr als 20 000 Fussballspielern genutzt.
2014: Der TV-Spot «Fussballtest» erhielt zahlreiche Auszeichnungen
Teuer sind die Skiunfälle
Während sich noch heute durchschnittlich 45 000 Fussballunfälle pro Jahr ereignen, liegt eine andere Sportart an der Spitze der Kostenstatistik – das Skifahren (mit 215 Millionen Franken bei rund 25 000 Unfällen gegenüber rund 170 Millionen für Fussballunfälle).
Die erste «Warm-up!»-Kampagne wurde 1993 durchgeführt, bereits 1994 gingen die Unfallzahlen um 8 Prozent zurück. Da neun von zehn Schneesportunfällen selbstverschuldet sind, konzentrierten sich Kampagnen nach der Jahrtausendwende auf das Fahrverhalten (Pistenleitsystem, «Tempo-Tage», Online-Risikotest und «Slope-Track»-App mit rund 200 000 Downloads).
2002: TV Spot zum Thema «Fahren Sie auf der Piste nicht wie ein Verbrecher»
Auch ist – in Zusammenarbeit mit dem Schnee- und Lawinenforschungsinstitut in Davos – die Lawinenprävention in die Schneesportkampagne integriert. Sie richtet sich an die Freerider, die seit 2001 für einen regelrechten Boom abseits der markierten Pisten sorgen.
Anders als bei den Velofahrern setzte sich der Helm auf den Skipisten innerhalb von wenigen Jahren durch. Dort wird er – gerade von jugendlichen Ski- und Snowboard-Fahrern – auch für modische Statements genutzt. 2003 lag die Quote noch bei 16 Prozent, 2008 bereits bei 60 Prozent, heute setzen 92 Prozent der Skifahrer – und 99 Prozent der Jugendlichen – einen Helm auf.
«Einer der vielversprechendsten Tennisspieler»
Rund zwei Drittel der Sportunfälle führen zu Gelenkverletzungen an Armen und Beinen. 1997 startete die Suva deshalb eine spezielle Kampagne: «Dänk a Glänk». Fussball, Handball, Volleyball und Basketball machten den Auftakt, im Jahr 2000 war der Tennissport an der Reihe.
Für die Werbung wurde ein gewisser «Roger Federer, einer der vielversprechendsten Tennisspieler der Schweiz», verpflichtet. So vermeldete es der Geschäftsbericht. Federer war damals noch ein Teenager, 2001 gewann er sein erstes Profi-Turnier.
Man erzählt sich, dass Suva-Mitarbeiterinnen während der Aufnahmearbeiten wetteten, wie weit es Federer in der Weltrangliste einmal bringen werde. Die mutigste Mitarbeiterin setzte auf Rang 2.
2010 kam ein weiterer Schwerpunkt in der Präventionsarbeit der Suva dazu: Stolpern und Stürzen. Jährlich verletzen sich über 100 000 Versicherte bei Stolper- oder Sturzunfällen in der Freizeit – zusätzlich 60 000 am Arbeitsplatz. Stolpern ist die häufigste Unfallursache in der Schweiz und verursacht Kosten von rund einer Milliarde Franken pro Jahr.
Die Kampagne schärft das Bewusstsein für die unterschätzte Gefahr des Stolperns.
Beratung statt Kampagnen
Anfänglich bestand die Strategie von «SuvaLiv» darin, Schwerpunkte zu setzen und die Freizeitsicherheit mit Aufklärungsarbeit in der Öffentlichkeit zu fördern. Heute zielt der Kern der Strategie nicht mehr auf flächendeckende Öffentlichkeitskampagnen, sondern konzentriert sich auf Bereiche, die sich durch ein hohes Unfallrisiko, durch ein überdurchschnittliches Verhütungspotenzial und durch hohe Versicherungsleistungen auszeichnen (Fussball und Schneesport).
Daneben setzt die Suva auf die verstärkte Beratung von Betrieben auch in Fragen der Nichtberufsunfälle. Dies war schon immer ein Schwerpunkt der Präventionsarbeit, wurde seit 2007 aber intensiviert. Damals wurden 51 Schulungen durchgeführt, 2011 waren es bereits 110 Firmenberatungen, die 13 000 Mitarbeiter erreichten. Erhebungen zeigten, dass sich das Unfallrisiko in den beratenen Unternehmen innerhalb eines Jahres um 9 Prozent senkte. 2016 erreichte die Suva mit ihren Firmenberatungen mehr als 100 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Schweiz.
Die Suva engagiert sich in vielen weiteren Bereichen für die Freizeitsicherheit. Hier nur einige von vielen Beispielen: