Ein «Tschinggeli» bringt die Suva in Not
Attilio Tonola, ein Gastarbeiter aus Italien, ist die tragische Figur einer finsteren Migrationsgeschichte. Und er steht für einen schwierigen Moment in der Geschichte der Suva. Tonola starb 1968 nach einer wüsten Schlägerei in St. Moritz. Alkoholisierte Bauarbeiter hatten sich geprügelt, dabei fielen auch fremdenfeindliche Worte. Italien war in Aufruhr und intervenierte in Bern. Um die diplomatischen Wogen zu glätten, versuchte der Bundesrat, die Versicherungsanstalt zu einer Gesetzesumgehung zu bewegen – durch die Hintertüre.
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1968 war das Jahr, als in der Schweiz erstmals Unterschriften gegen Ausländer gesammelt wurden. James Schwarzenbach und die Nationale Aktion hatten ihr «Volksbegehren gegen die Überfremdung» lanciert. Sie wollten den Ausländeranteil auf 10 Prozent begrenzen (ausser in Genf), die Stimmung war angespannt.
Und ausgerechnet in diesem Jahr ereignete sich der Zwischenfall in St. Moritz, der – nicht in der Schweiz, aber in den italienischen Medien – als ein Akt des Fremdenhasses dargestellt wurde.
Was war geschehen?
In der Nacht auf den 23. November 1968 befand sich Attilio Tonola auf dem Heimweg von einem Aufrichtefest.
«Der «stark betrunkene» Gastarbeiter, so die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) in ihrer Gerichtsberichterstattung vom 13. März 1969, traf kurz nach Mitternacht auf drei junge Ostschweizer, die von einer Geburtstagsfeier aus Celerina zurückkehrten – nach «reichlichem Alkoholkonsum».»
«Tschau Tschinggeli»
In der Nähe des Casinos in St. Moritz-Bad verwickelten sie den Italiener in ein Wortgefecht. «Tschau Tschinggeli» provozierte ihn einer der drei Hilfsarbeiter. Tonola reagierte gemäss NZZ mit einem Schlag in das Gesicht des 21-jährigen Hilfsarbeiters, «so dass beide Männer auf der glitschigen Strasse zu Boden fielen». Beide standen «sofort wieder auf», doch nun schlugen zwei der drei Männer auf den Maurer aus Italien ein, bis er nicht mehr aufstand. «Ich schlag dich tot», soll einer der Schweizer laut einem Augenzeugen gerufen haben.
Sie schleppten den Bewusstlosen in eine Garageneinfahrt und liessen ihn bei Minustemperaturen liegen. Sie legten noch eine Jacke unter seinen Kopf, doch
««dann gingen sie in ihre Wohnung, ohne sich weiter um den Verletzten zu kümmern, um einen Kaffee zu trinken»,»
so die NZZ.
Italiener, die sich in der Nähe befanden, alarmierten die Polizei, doch der Notarzt konnte nur noch den Tod des Maurers und vierfachen Familienvaters aus dem Chiavenna-Tal feststellen. «Karotissinus-Schock» stellte die gerichtsmedizinische Autopsie fest, ausgelöst durch einen Schlag auf die Kopfschlagader in der Halsregion, «der ausreichend war, den Eintritt des Todes zu erklären».
Die beiden Schläger wurden vom Kantonsgericht in Chur zu Gefängnisstrafen von zwei Jahren beziehungsweise 15 Monaten verurteilt. Der dritte Ostschweizer hatte versucht, den Streit zu schlichten.
Akt des Fremdenhasses?
In der italienischen Presse war der Fall als ein «Akt des Rassenhasses» gegenüber den italienischen Gastarbeitern dargestellt worden. Auch die milden Strafen sorgten für Entrüstung.
In der Öffentlichkeit waren die Aufmerksamkeit und die Empörung gross – sogar ein Lied, «La storia di Attilio Tonola», widmete sich der Geschichte. In der Schweiz wurde die politische Dimension heruntergespielt. An der Gerichtsverhandlung in Chur betonten sowohl die Anklage als auch die Verteidigung, dass es sich um eine blosse Schlägerei unter Alkoholeinfluss gehandelt habe.
Dennoch schaltete sich die Politik ein – in Italien und in der Schweiz. Vorstösse wurden eingereicht, der italienische Botschafter wurde bei den Behörden in Bern vorstellig.
Bundesrat bittet um Hilfe
Und plötzlich wurde auch die Suva bedrängt. Rechtlich war der Fall klar: Tonola war als Bauarbeiter zwar bei der Suva auch gegen Nichtbetriebsunfälle versichert, doch «Raufereien und Schlägereien» waren von der Versicherung ausgeschlossen. Für die Witwe und die vier Kinder – die unschuldigen Opfer der Auseinandersetzung – wurden deshalb Hinterbliebenenrenten abgelehnt. Obwohl es einen Hilfsfonds für Härtefälle gab, sah sich die Direktion gezwungen, sich an den Buchstaben des Gesetzes zu halten. Ansonsten müsse man «in jedem nächsten Fall ein gleiches tun», sagte Fritz Lang am 27. Mai 1969 vor dem Verwaltungsausschuss.
Politisch wurde der Druck aber auf die Versicherungsanstalt abgewälzt. Sie sollte ein Zeichen des guten Willens setzen, wenn schon die Politik machtlos war. Noch vor dem Prozess in Chur sprach ein Vertreter der italienischen Botschaft bei der Direktion vor. Er stellte in Abrede, dass es sich um eine Rauferei handelte. Dann kamen die Interventionen von höchster Stelle.
Bundesrat Hans-Peter Tschudi habe sich am 30. April 1969 nach der Angelegenheit erkundigt, berichtete Karl Obrecht, Präsident des Verwaltungsrates, in der Sitzung des Verwaltungsausschusses vom 27. Mai 1969. Man habe ihn vor einer Sonderbehandlung gewarnt. Diese hätte «katastrophale Wirkungen auf andere unzufriedene Italiener, aber auch auf Schweizer». Kurz darauf habe Tschudi angerufen. Er habe zwar Verständnis für die Ablehnung gezeigt, gleichzeitig aber erklärt,
«im Bundesrat bestehe die Meinung, die Anstalt könnte doch in dieser aussenpolitisch heiklen Angelegenheit freiwillig etwas tun».»
Später sei er bei einem zufälligen Treffen auch von Bundesrat Nello Celio auf den Fall angesprochen worden. Celio, Suva-Verwaltungsrat von 1958 bis 1965, habe ihm allerdings versichert, dass er der Direktion auch als Bundesrat «nicht in die Geschäftsführung hineinreden» werde.
Prinzip vs. Gerechtigkeitsgefühl
Trotz eines «gewissen Unbehagens», weil sich die Italiener «ohnehin in der Schweiz zurückgestellt» fühlten, wich der Verwaltungsrat aber nicht von Gesetz und Prinzip ab.
Man könne «Ausländer nicht besser behandeln als Schweizer», erklärte Obrecht, «auch wenn die Italiener immer etwas empfindlich reagieren.» Tatsächlich sei es unbefriedigend, dass Versicherungsleistungen «für unschuldige Familienangehörige wegen schuldhaften Verhaltens des Versicherten eingeschränkt» würden. Dies könne aber nicht für einen Einzelfall geändert werden.
Damit war der Fall für die Suva aber noch nicht erledigt. Ettore Tenchio, Anwalt und CVP-Nationalrat aus dem Kanton Graubünden, hatte die Hinterbliebenen von Attilio Tonola als Privatkläger vor dem Gericht in Chur vertreten. Er war seit 1950 auch Mitglied des Suva-Verwaltungsrates und wurde 1970 in dieser Funktion aktiv. Er beantragte die Streichung der Schlägereien und Raufereien aus der Liste der aussergewöhnlichen Gefahren und Wagnisse.
«Es sei Aufgabe einer modernen Sozialversicherung, unschuldigen Hinterlassenen – Witwen und Kindern – wenigstens den finanziellen Ausfall infolge des Todes ihres Versorgers überwinden zu helfen».»
Alles andere widerspreche «Recht und Billigkeit». Fritz Lang, Direktor der Anstalt, hielt dagegen: «Bestraft» würden die Hinterbliebenen auch, «wenn der Vater wegen eines Vergehens zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Es ist eben an ihm, als verantwortungsvollem Menschen, vorher zu überlegen, was er tut!»
Liste wird nicht geändert
Abgeschrieben wurde der Antrag in der Verwaltungsratssitzung vom 1. Dezember 1972. Es war die letzte Sitzung von Ettore Tenchio als Suva-Verwaltungsrat, und er hielt ein flammendes Plädoyer für Solidarität und Gerechtigkeit. «Recht ist nur, was der Gerechtigkeit entspricht», sagte er, diese sei «keine kalte Rechnung in Franken und Rappen». Solidarität bedeute, dass es wenigstens einen Fonds für Härtefälle gebe.
««Man will doch die Katastrophe einer Familie vermeiden. Dies ist die Quintessenz jeder Sozialpolitik oder ist das ein Irrtum?»»
Höflich wurde das Anliegen von Tenchio abgewiesen. Man danke dem langjährigen Verwaltungsratsmitglied dafür, dass er «dieses Problem mit so viel Einsatzfreude an die Hand genommen» habe, auch für die «sehr schöne Vorlesung über das Sozialrecht». Auf die angeregte Änderung der Liste der aussergewöhnlichen Gefahren und Wagnisse verzichte man aber.
Hilfe erhielt die Witwe von Attilio Tonola dennoch – durch eine freiwillige Spende des Schweizerischen Baumeisterverbandes in der Höhe von einer Million Lire.