Wenn der Hexenschuss doppelt schmerzt
Eines war der neuen Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt gewiss: Kritik. Und zwar auf Jahre hinaus, dafür sorgte die Kombination von Versicherungszwang und Monopolstellung der Anstalt. Von einem «Bürokratiemonster» war die Rede, das übersetzte Prämien verlange, keinen vollen Lohnersatz leiste und nicht einmal für einen Hexenschuss bezahle.
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Kaum hatte die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt am 1. April 1918 ihren Betrieb aufgenommen, schwoll auch die Kritik an. Damit hatten die Verantwortlichen gerechnet. Zu gross waren die Änderungen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber, zu umkämpft war das Sozialversicherungswerk gewesen. Dennoch wunderte man sich über die Kritik, die sich auf dem politischen Parkett äusserte.
Achille Grospierre, SP-Nationalrat und Gewerkschafter aus Le Locle, reichte bereits am 18. September 1918 eine Motion ein, die verlangte, dass das Krankengeld bei einem Unfall erstens nicht 80, sondern 100 Prozent betrage und zweitens nicht ab dem dritten, sondern ab dem ersten Tag ausbezahlt werde.
«Der empfindlichste Punkt des Gesetzes»
Alfred Tzaut, Direktor der Versicherungsanstalt, räumte ein, dass Grospierre damit «den empfindlichsten Punkt des Gesetzes» treffe. Die meisten Proteste der Arbeiterschaft richteten sich gegen die 80-Prozent-Regel.
Unter den bisherigen Haftpflichtbestimmungen wurde die ganze Lohnsumme entschädigt.
Dennoch, so Tzaut, staune er über die Kritik: «Bei Inkraftsetzung des Gesetzes schienen die Versicherten mit Verwunderung zu entdecken, dass die neue Ordnung ihnen mit Bezug auf das Krankengeld weniger günstig ist, als die Haftpflichtordnung», sagte er vor dem Verwaltungsrat am 28. November 1918. Dabei sei «der Nachteil des beschränkten Krankengeldes» ein grosses Thema in den Beratungen und im Abstimmungskampf gewesen. Er habe «denn auch zu der sogenannten ‹promesse Comtesse› geführt», den Sonderzusagen von Bundesrat Robert Comtesse an die Eisenbahner, die entscheidend für den Ausgang der Referendumsabstimmung von 1912 waren.
«Reichlich aufgewogen» werde der Nachteil «durch die höhern Leistungen bei dauernder Invalidität und im Todesfalle ». Für die Arbeitgeberseite sei entscheidend gewesen, dass das Krankengeld reduziert würde.
«Lumbago» erhitzt die Gemüter
Kurz bevor Grospierre seine Motion einreichte, hatten die Gewerkschaften am 10. September 1918 im Volkshaus Zürich getagt. Dort verabschiedeten sie einen Katalog von Kritikpunkten an die Adresse der Unfallversicherungsanstalt, an erster Stelle stand die Forderung,
«dass Muskelzerrungen allgemein, insbesondere wo das plötzliche Auftreten von Schmerzen nach Überheben festgestellt ist, als Unfall anerkannt werden.»
Auch aus den Unterlagen der Versicherung geht hervor, dass der sogenannte «Lumbago» – eine Muskelzerrung, die häufig im Lendenbereich als Hexenschuss auftritt – eines der Hauptprobleme bei der Bearbeitung von medizinischen Gesuchen darstellte. Innerhalb von fünf Monaten waren 42 Klagen vor Versicherungsgerichten gegen Ablehnungsentscheide der Anstalt eingegangen. «Die Grosszahl derselben betreffen Ablehnungen von angeblich traumatischen Lumbago-Fällen, besonders im Gebiete der Kreisagentur Zürich», vermerkt das Verwaltungsratsprotokoll vom 11. September 1918.
In seiner Funktion als Oberarzt der Anstalt fügte Daniele Pometta an, dass Muskelzerrungen anerkannt würden, «aber nicht einfach jeder Muskelschmerz». In der Regel verheile der Lumbago innerhalb von zwei bis vier Tagen.
Wenn ein Arzt eine Arbeitsunfähigkeit von zwei bis vier Wochen attestiere, liege wahrscheinlich ein Missbrauch vor.
Problematische Liste
Als problematisch erachtete der Verwaltungsrat aber die «Liste der Stoffe, die Berufskrankheiten erzeugen». Diese sei vom Bundesrat zurückgewiesen worden. Er habe Stoffe gestrichen, die nicht in der Industrie vorkommen, was für die Landwirtschaft – etwa bei Milzbranderkrankungen – ein grosser Nachteil sei. Ebenso habe er Stoffe von der Liste genommen, die nicht zu «schweren Krankheiten» führten.
Jetzt habe man tatsächlich das Problem, dass man Fälle ablehnen müsse, die Anerkennung verdienten, beispielsweise «Ekzeme, die durch Öle von schlechter Qualität verursacht werden», weil Öle nicht auf der Liste ständen. Oder wenn ein Arbeiter unter der Last von Steinen, die er trage, zusammenbreche, dann dürfe man dies nicht als Rheumatismus abtun.
Bei aller Kritik, so der Verwaltungsrat, müsse man die Relationen sehen: In den ersten fünf Betriebsmonaten seien 62 000 Unfallmeldungen eingegangen, 42 Entscheide seien vor Gericht angefochten worden. Pometta verteidigte die Anstalt mit einem Beispiel:
«In den wenigen Monaten seit der Betriebseröffnung hat sie mehr Hernien operieren lassen, als bisher in der Schweiz auf Kosten sämtlicher Versicherungsgesellschaften in einem Jahre operiert worden sind.»
Auch dann, wenn nicht klar sei, ob der Bruch von einem Unfall herrühre – das spreche für die Weitherzigkeit der Anstalt.
«Hülfsfonds» für Härtefälle
Ein knappes Jahr nach der Betriebseröffnung war diese Weitherzigkeit noch nicht zu allen Versicherten durchgedrungen. Die Anstalt sei «Gegenstand weitverbreiteter Kritik», sagte Paul Usteri in der Verwaltungsratssitzung vom 25. Februar 1919. Früh habe man auch aus föderalistischen Gründen auf die Dezentralisierung der Organisation, auf die Schaffung von Kreis- und Bezirksagenturen geachtet; der Nachteil sei nun, dass nicht alle Agenturen gleich urteilten. Der Anstalt entgehe nicht, «dass die starke Dezentralisation der Verwaltung nur um den Preis gewisser Komplikationen im innern Betrieb erkauft werden kann» und
«dass ihr ganz neubestellter Beamtenkörper auf dem neuen Gebiete auch nicht ohne Lehrjahre auskommt.»
Mitte 1919 beantragte die Direktion die Schaffung eines «Hülfsfonds» für Härtefälle. Der Anstalt werde «oft Härte gegenüber den Versicherten vorgeworden», schrieb Alfred Tzaut am 27. Juni 1919 an den Verwaltungsrat. Es gebe Fälle,
«die wir, trotzdem der Wunsch bestände, sie günstig aufzunehmen, doch ablehnen müssen, weil sie mit bindenden und formellen Bestimmungen des Gesetzes nicht vereinbar sind.»
Jedes Gesetz habe «seine Fehler, seine Lücken und seine Härten, die in erster Linie davon herrühren, dass man nicht alles voraussehen kann.»
Am 9. Juli 1919 genehmigte der Verwaltungsrat den Fonds «für Leute, die keinen gesetzlichen Anspruch auf Versicherungsleistungen haben».
Ähnlich ging die Anstalt vor, um die Verfahren von Rentenzumessungen zu beschleunigen. In mehreren Rundschreiben an die Kreisagenturen weist die Direktion auf die Dringlichkeit des Anliegens hin: «Die Langsamkeit im Verfahren für die Rentenfestsetzung gibt Anlass zu Klagen, welche wir als berechtigt anerkennen müssen», schrieb sie am 5. April 1919. Drei Wochen später präsentierte sie die Lösung – man zahle provisorische Renten aus, um die Lücke zwischen dem Krankengeld und der Invaliditätsrente zu überbrücken.
Warnung vor Pressefeldzug
In anderen Rundschreiben ging die Direktion schon unmittelbar nach der Betriebseröffnung auf die Kritik in der Presse ein. Zeitungsartikel kritisierten die Anstalt – vor allem, dass Prämien zu hoch seien.
«Einige dieser Artikel sind geradezu übelwollend oder auf schlechtem Glauben beruhend», heisst es in einem Rundschreiben vom 29. Mai 1918. Diese «lasse man ausser Acht, … denn wir wollen uns um keinen Preis in Polemiken einlassen.»
Vielmehr wurden die Agenturen angewiesen, Artikel, die in den Regionen erscheinen, an die Zentrale zu übermitteln und «keine Antwort auf Artikel ohne unsere Zustimmung» zu geben. Auch später hielt die Direktion an ihrer Strategie gegenüber der Presse fest: «Die Direktion bleibt in bezug auf die Wirkung eines Pressefeldzuges oder anderer allgemeiner Propagandamittel skeptisch: sie ist überzeugt, dass einzig das Ende der Wirtschaftskrise die Geister beruhigen wird.»