Wohnungsnot zwang zum Handeln
Kaum hatte die Unfallversicherungsanstalt ihren Betrieb am 1. April 1918 aufgenommen, sah sie sich mit einem unterwarteten Problem konfrontiert. In der Stadt Luzern fehlte der Wohnraum, um die neuen Angestellten unterzubringen. Kurzerhand betätigte sich die Suva in der Wohnbauförderung.
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Nach der offiziellen Betriebseröffnung wuchs die Versicherungsanstalt rasch. Allein in der Zentralverwaltung stieg die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb der ersten drei Betriebsjahre von 85 auf 201. Dazu kamen die neuen Angestellten der Kreisagentur. 1919 war die Wohnungsnot so gross, dass sich die Direktion mit einem Hilferuf an den Verwaltungsrat wandte:
«Mehrere unserer jüngern Angestellten, die sich zu verehelichen wünschten, haben die Heirat hinausschieben müssen, weil sie keine Wohnung fanden, oder sie mussten sich mit einer notdürftigen Unterkunft in gemieteten Zimmern begnügen.»
Eine öffentliche Wohnbauförderung war in den Krisenjahren nach dem ersten Weltkrieg ausgeschlossen, deshalb erachtete es die Suva als ihre «moralische Pflicht, sich mit der Beschaffung von Wohngelegenheiten zu befassen». Die in den Anstellungsbedingungen formulierte Bestimmung, dass Angestellte «ihren Wohnsitz im Orte ihrer Beschäftigung zu nehmen haben», wurde schon seit längerer Zeit nicht mehr angewendet. Seit der Eröffnung waren rund 60 Haushaltungen nach Luzern gezogen.
Angestellte ergreifen die Initiative
1919 taten sich 47 Angestellte der Suva zusammen, um eine Genossenschaft für Wohnungsbau zu gründen. Sie baten die Anstalt um Unterstützung, allerdings lehnte die Direktion ab, weil das finanzielle Engagement zu gross gewesen wäre. Stattdessen sprach sich der Verwaltungsrat in seiner Sitzung vom 10. Juli 1919 für einen Kredit von 500 000 Franken aus,
«um nach Massgabe des Bedürfnisses in Luzern und Umgebung Wohnhäuser zu erstellen oder anzukaufen, zwecks Vermietung der Wohnungen zu ortsüblichen Preisen, in erster Linie an Angestellte der Anstalt.»
Zunächst zog die Suva auch in Betracht, leerstehende Hotels aufzukaufen und in Wohnungen umzubauen. Dies erwies sich aber aus Kostengründen als unrealistisch. In der Folge konzentrierte sich die Direktion auf Neubauten und stiess auf zwei Parzellen, die sich für den Neubau von Wohnhäusern eigneten. Die eine Parzelle befand sich auf Wesemlin-Ruflisberg (Landschaustrasse 26 und Wesemlinhöheweg 1 bis 13), die andere Liegenschaft (Mühlemattstrasse 23) war ein Teil der «Mühlematte», auf deren unterem Teil sich die Zimmerei von Jakob Brauchli befand (heute noch Schreinerei).
Direktor fand keine Wohnung
In der gleichen Zeit spürte auch der Direktor der Versicherungsanstalt, Alfred Tzaut, die Wohnungsnot. Er war aus der Waadt zugezogen, und nun wurde ihm die Wohnung auf den 15. September 1920 gekündigt. «Trotz eifriger persönlicher Bemühung und Inanspruchnahme der gewerbsmässigen Wohnungsvermittlung» gelang es ihm nicht, ein neues Mietobjekt zu finden.
Deshalb kam nun ein weiteres Projekt dazu ‒ ein Zweifamilienhaus auf Felsberg Abendweg 5, heute Abendweg 11.
Eine erste Grobschätzung mit insgesamt 55 Wohnungen auf den drei Parzellen ergab einen Investitionsbedarf von mehr als 2,1 Millionen Franken.
Das war der Direktion zu viel. Sie redimensionierte das Projekt auf 28 Wohnungen und eine Kostenschätzung von 1,3 Millionen Franken ‒ der Verwaltungsrat stimmte einem entsprechenden Kreditbegehren am 27. November 1919 zu.
Doch damit war das Ende noch nicht erreicht. Ende 1919 explodierten die Baupreise, auch weil «der straffe Zusammenschluss der luzernischen Baufirmen die freie Konkurrenz ernstlich in Frage» stelle, so der Verwaltungsausschuss der Suva im Mai 1920. Innerhalb eines halben Jahres seien die Preise um 40 Prozent gestiegen.
Boykott durch Bauunternehmen
Mit welchen Bandagen gekämpft wurde, zeigt die Vergabe der Bauarbeiten für die Direktorenwohnung auf Felsberg. Weil sich die Suva von den luzernischen Bauunternehmern über den Tisch gezogen fühlte, vergab sie die Aufträge an einen auswärtigen Unternehmer. Dieser wurde von den Luzerner Baumeistern umgehend mit einer Materialsperre belegt. Erst eine Intervention durch den Vorstand des Schweizerischen Baumeisterverbandes machte die Sperre rückgängig. Mitte 1920 wurde die Planung auf dem Wesemlin ausgesetzt, erstmals kam die Idee auf, die Wohnbauförderung in eine gemeinnützige Stiftung auszulagern, um das versicherungsfremde Geschäft von der Anstalt zu trennen und auch in den Genuss von Steuervorteilen zu kommen.
Bereits am 8. September 1920 beriet der Verwaltungsrat über die Errichtung einer «Stiftung für Wohnungsbau» ‒ allerdings nicht, ohne Kritik an der Steuertaktik der Anstalt zu üben. Paul Usteri, Präsident des Verwaltungsrates, wehrte sich: Erstens müsse man die Wohnbauförderung, wenn nicht in Form einer Stiftung, «wegen der luzernischen Steuerverhältnisse» aufgeben, zweitens schlüpfe die Anstalt in eine Rolle, die andernorts von der öffentlichen Hand übernommen werde, und drittens gehe man «gegenüber dem Staate und der Stadt Luzern durchaus loyal» vor. Freiwillig beanspruche man die generelle Steuerbefreiung gemäss Artikel 53 des Versicherungsgesetzes nicht für diejenigen Teile der Fluhmatt-Liegenschaft, die nicht von der Verwaltung genutzt werden. Usteri setzte sich mit 28 zu 4 Stimmen durch, die Suva gründete die «Stiftung für Wohnungsbau» in Luzern.
Stiftung erstellte 22 Wohnungen
Gleichzeitig schritt das Bauvorhaben auf Felsberg voran, auch auf dem Wesemlin wurden die Arbeiten aufgenommen. Auf dem «Mühlemätteli» entschied man sich für ein reduziertes Bauprogramm und profitierte von Preisabschlägen wegen der grossen Arbeitslosigkeit im Winter 1920/21; die Ausführung wurde als «Notstandsarbeit» deklariert. So entstand ein Zweifamilienhaus auf Felsberg, auf Wesemlin-Ruflisberg wurden zwei Miethäuser mit je 4 Wohnungen (Landschaustrasse 26 und Wesemlinhöheweg 13) sowie 6 Reiheneinfamilienhäuser (Wesemlinhöheweg 1 bis 11) gebaut. Sie konnten Mitte März, Mitte Mai und Mitte Juli 1921 bezogen werden.
Auf der Mühlematte schliesslich entstand ein Miethaus mit 6 Wohnungen (Mühlemattstrasse 23, Bezug am 15. Dezember 1921). Von den insgesamt 55, dann 28 Wohneinheiten wurden letztlich 22 realisiert. Dafür verfügte die Anstalt auf dem Wesemlin und auf der Mühlematte noch über Baulandreserven von rund 10 000 Quadratmetern.
1930 wurde eine Parzelle von 725 Quadratmetern auf der Mühlematte verkauft.
Aktiv wurde die Wohnbaustiftung erst wieder zu Beginn der Siebzigerjahre. Auf dem Wesemlin erstellte sie 18 weitere Wohnungen, die 1972 bezugsbereit waren. «Die Mieter sind mehrheitlich Mitarbeiter der Suva», hielt der Geschäftsbericht von 1972 fest. Auch die in den Zwanzigerjahren erstellten Wohnungen waren weiterhin «fast ausschliesslich an Mitarbeiter der Suva vermietet».
Titelbild: Bauprofile bei den Häusern Landschaustrasse 26 und Wesemlinhöheweg 1 bis 3 für die geplanten Neubauten der Suva, 1978