1928–2018

Rehabilitation – von Badekuren zu
High-Tech-Prothesen

Was geschieht mit einem Schwerverletzten, mit einem Invaliden nach einem Unfall? Wiedereingliederung war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nur ein Randthema. Heute ist sie ein wichtiges Standbein der Suva – sowohl in der Deutsch- als auch in der Westschweiz.

Es begann mit Badekuren

Immer wieder flammten die Diskussionen auf: War es nicht auch eine Aufgabe der Unfall­versicherungs­anstalt, sich um die Wieder­eingliederung der Verunfallten, vor allem der Schwerverletzten und Teilinvaliden, zu kümmern? Es war ein heikles Thema. Konsequent sprach sich der Verwaltungsrat gegen die Errichtung einer eigenen Wieder­eingliederungs­stätte oder -abteilung aus – auch gegen Vorstösse aus den eigenen Reihen.

1928 forderte Howard Eugster-Züst, SP-Nationalrat und Vizepräsident des Suva-Verwaltungsrates, dass sich die Anstalt um die «Verwertung der verbliebenen Arbeitskraft in schweren Invaliditätsfällen» bemühe – etwa mit der Schaffung einer Fürsorgestelle für Invalide. Dem hielt die Direktion entgegen, dass «das Problem in der Schweiz kein so brennendes» sei; die Arbeitslosigkeit sei bei Teilinvaliden nicht höher als bei Gesunden.

Howard Eugster-Züst SP-Nationalrat und Regierungsrat von Appenzell Ausserrhoden, Präsident des Schweizerischen Textilarbeiterverbandes und Vizepräsident des Suva-Verwaltungsrates
«Es ist für sie [die Halbinvaliden] nicht wohl möglich, auf dem Lande bei bloss halber Leistung oder halber Arbeitszeit zu halbem Lohne angestellt zu werden.» Howard Eugster-Züst zur «Verwertung der verbliebenen Arbeitskraft» von Invaliden, 18. Juli 1928

Vor allem wies die Direktion darauf hin, dass sich die Suva «seit längerer Zeit» für die medizinische Behandlung nach einem schweren Unfall starkmache. Sie schickte die Unfallpatienten «zur Nachkur nach Baden».

Volksheilbad Freihof (links) und «Quellenhof», Postkarte von 1909
Direkt an der Limmat standen der «Quellenhof» (rechts) und das Volksheilbad Freihof (Postkarte von 1909). 1977 sprach sich die Suva gegen den Kauf des benachbarten Volksheilbades aus. Es befand sich damals in Besitz einer Stiftung.
Bäderheilstätte zum Schiff in Baden, Eingang auf Bergseite, ca. 1950
Der bergseitige Eingang zur Bäderheilstätte in Baden, um 1950.

Dort stellte die Suva allerdings «Mängel und Unzukömmlichkeiten» fest, beispielsweise werde «das Fehlen einer genügenden Überwachung» als eine «gewisse Aufmunterung zum Trinken» interpretiert. Kurzerhand entschloss sich der Verwaltungsrat, den «Quellenhof» zu kaufen und als Bäderheilstätte einzurichten.

Sehr schnell stellten sich die Heilerfolge ein. 1936 wurde der «Quellenhof» durch eine Gehschule ergänzt. Sie wurde als «Amputiertenschule» bekannt und diente neben der Stumpfbehandlung auch der «Übung der verbleibenden Gelenke» und der «Anlernung im richtigen Gebrauche der Kunstglieder».

1937 wurden sogar «kinomatographische Aufnahmen» von Übungsstunden der Amputierten gemacht, um bei Ärzten für die Schule zu werben.

Ausschnitte aus den «kinomatographischen Aufnahmen» von 1937 aus dem «Schiff» in Baden.
«Das Haus hat Zentralheizung und Lift. Für den Tagesaufenthalt stehen ein grosser Lese- und Spielraum, eine Bibliothek und Zeitungen der verschiedenen Landesteile, sowie die hellen, breiten Treppenhallen mit bequemen Sesseln zur Verfügung. Radio und Grammophon sorgen für Unterhaltung. Das Essen wird im grossen Speisesaal an weissgedeckten Tischen serviert. Die Patienten müssen mit Rock und Kragen zu Essen erscheinen, wie man sich überhaupt bemüht, die Atmosphäre eines Kurhotels zu wahren.» Hans Büchel in einer Dissertation an der Universität Zürich über den «Quellenhof», 1935

1937 war die Suva einverstanden, den Namen der Bäderheilstätte von «Quellenhof» in «Schiff» zu ändern. Sie entsprach damit dem Wunsch der «A.-G. Grand Hotel Baden» und der Stadt Baden, die beabsichtigten, «Quellenhof» für die touristische «Werbung für ihr Badehotel und für den Fremdenverkehr in Baden überhaupt» zu verwenden.

Bäderheilstätte «zurn Schiff», Bergseite, 1980
Der bergseitige Eingang zur Bäderheilstätte nach der Renovation von 1980.

Schon bald wurde das «Schiff» zu einem Vorzeigeobjekt der Suva, es hatte den Charakter eines Kurhauses mit Hotelbetrieb. In der ganzen Schweiz gab es keine vergleichbare Institution. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Ansturm auf die Bäderheilstätte so gross, dass sich eine Erweiterung aufdrängte. Diese war in Baden aber aus Platzgründen nicht möglich, deshalb entschloss sich der Suva-Verwaltungsrat, ein neues Nachbehandlungszentrum in Bellikon zu bauen. Dieses wurde 1974 eröffnet, die Heilstätte in Baden blieb noch bis 2000 in Betrieb.

Ein grosser Schritt auf der grünen Wiese

Mit der Rehabilitationsklinik in Bellikon stiess die Suva in eine neue Dimension vor. 1974, als sie das «Nachbehandlungszentrum» eröffnete, erweiterte sie nicht nur ihre Tätigkeit als Versicherer. Auch das Bauprojekt – ein 80-Millionen-Wurf auf der grünen Wiese über dem aargauischen Reusstal – setzte einen imposanten Akzent. Es war das Resultat von Weitsicht und Zielstrebigkeit – aber auch von Irrungen und Wirrungen.

1974 begann sich die Öffentlichkeit für die Rehabilitation zu interessieren. Aufklärungsarbeit leistete die Suva mit einem Kurzfilm.
«Bellikon ist nur ca. 10 Minuten von Baden entfernt, liegt an einem sonnigen, ruhigen Hang, ca. 600 m ü.M. und ist aus medizinischer Sicht als idealer Standort für eine Nachbehandlungsstätte zu betrachten.» Karl Obrecht, Verwaltungsratspräsident der Suva, nach dem Kauf der landwirtschaftlichen Liegenschaft in Bellikon, 28. Juni 1963
Bau des Nachbehandlungszentrums Bellikon, ca. 1971
Generalunternehmer und Baufirma kontrollieren den Baufortschritt in Bellikon.

Es brauchte Hartnäckigkeit und Geduld, bis das Nachbehandlungszentrum stand. Zwölf Jahre dauerte die Planungs- und Bauzeit, vor allem der Kampf um die Baubewilligung kam einem Spiessrutenlauf gleich. Sowohl ein Anwohner – der «Schlossherr von Bellikon», das heisst der neuzeitliche Besitzer des angrenzenden Schlossgutes aus dem 14. Jahrhundert – als auch die Umweltverbände reichten Beschwerden ein. 1965 wurde ein erstes Baugesuch von den Gemeindebehörden zurückgewiesen; ein Jahr später bewilligten sie ein redimensioniertes Projekt, gegen das wiederum Beschwerden eingingen. Diese wurden 1967 von der Kantonsregierung abgewiesen.

Baustelle des Nachbehandlungszentrums Bellikon, 1971
Luftaufnahme der Baustelle in Bellikon; oben das Dorf, links das Schlossgut.
Baustelle des Nachbehandlungszentrums Bellikon, 1972
1972 ist das Bettenhaus im Rohbau fertiggestellt; rechts die Schwimmhalle.

Nicht locker liess die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission (ENHK), die auf einer weiteren Verkleinerung bestand. Dies kam für die Suva nicht in Frage, mit nur 180 statt 270 Betten war ein wirtschaftlicher Betrieb nicht möglich. Gelöst wurde der Konflikt erst, als sich die Suva an den Bundesrat wandte. Bei einem Augenschein mit Hans Peter Tschudi lenkte die ENHK am 8. Juli 1968 ein.

«Ich habe alle Achtung vor diesen Herren, aber leider haben sie – bei allem guten Willen – oft einen Zug ins Extreme … das Projekt ist ein ehrlicher Versuch, eine Harmonie zwischen Natur und menschlichen Interessen herzustellen.» Ettore Tenchio, CVP-Nationalrat aus Graubünden und Verwaltungsrat der Suva, zu den Forderungen der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission, 8. September 1967

Nachbehandlung wird zu Rehabilitation

Ausschnitte aus einem Film über das Nachbehandlungszentrum in Bellikon, entstanden 1974 nach der Eröffnung.

Schon bald nach der Eröffnung des Zentrums zeichnete sich eine grundlegende Veränderung in der Rehabilitationsmedizin ab. Immer mehr Schädel-Hirnverletzungen – insbesondere nach Verkehrsunfällen – weckten den Bedarf nach einer «Frührehabilitation schon in der postakuten Phase».

Hirnverletzte nach Überlebenden und Verstorbenen, 1970 und 1989
1970 starben noch mehr als 25 Prozent der Hirnverletzten, Ende der Achtzigerjahre waren es weniger als 10 Prozent (oder eine Differenz von über 500 überlebenden Patienten pro Jahr).
Rehabilitationsklinik Bellikon, Gedächtnistraining am PC, um 1990
Schon früh richtete sich Bellikon auf die Betreuung von Hirnverletzten aus. Patienten nutzten den PC, um das Gedächtnis zu trainieren.
«Bei den Schädel-Hirnverletzten … handelt es sich vorwiegend um junge Leute, meistens Motorradfahrer.» Dominik Galliker, Direktionspräsident der Suva, 2. Juli 1993

1984, mit dem Inkrafttreten des neuen Unfallversicherungsgesetzes, wurde das Nachbehandlungszentrum Bellikon in «Rehabilitationsklinik Bellikon» umbenannt. Dabei änderte nicht nur der Name, sondern auch die Philosophie. Innerhalb von zehn Jahren entwickelte sich die Rehabilitation zu einem integrierten Teil in der Behandlungskette des Patienten.

Ausgebaut wurde auch die Prothesenwerkstatt, die 1974 von Baden nach Bellikon umgezogen war. Sie entwickelte sich zu einem High-Tech-Labor mit einem angegliederten Forschungszentrum. Armprothesen und Gehhilfen – beispielsweise die «Funktionelle, instrumentierte Ganganalyse» (FiGA) mit einer «Rückenmaus» – gehörten zu den frühen Entwicklungen.

Was in den Anfangsjahren der Suva noch als ein Ding der Unmöglichkeit schien, ist heute eine Selbstverständlichkeit – die medizinische Rehabilitation und die berufliche Wiedereingliederung sind verknüpft. Zeichen für die Bedeutung der integrierten Rehabilitation ist der jüngste Ausbau der Klinik in Bellikon; zwischen 2013 und 2018 wurden rund 300 Millionen Franken in einen umfassenden Um- und Neubau investiert.

«Die Suva hat die Rehabilitation gepflegt, noch bevor dieser Teil der Medizin wissenschaftlich ausgebaut war … Medizinische Rehabilitation ist die Vorstufe für eine erfolgreiche berufliche Eingliederung.» Hans Hürlimann, Bundesrat, in seiner Rede zur Eröffnung des Nachbehandlungszentrums Bellikon am 28. Juni 1974

Expansion in die Westschweiz

«Die Rehabilitationsaufgaben sind ausserordentlich komplex und damit zugegebenermassen sehr teuer; teurer ist nur noch das Fehlen der Rehabilitation oder eine zu späte Rehabilitation.» Rolf Lanz, begründet die Notwendigkeit einer Rehabilitationsklinik in der Westschweiz, 2. Juli 1993
Portrait Rolf Lanz
Rolf Lanz Chirurg und Vertreter der Ärzteschaft im Suva-Verwaltungsrat

Es war ein kleiner Paukenschlag, als die Suva ankündigte, sie wolle eine zweite Rehabilitationsklinik errichten, und zwar in der Westschweiz. 1991, als der Plan bekannt wurde, gingen «gegen 100 Offerten von Westschweizer Gemeinden» ein, so der damalige Präsident des Suva-Verwaltungsrates, Franz Steinegger.

Spatenstich für die Rehabilitationsklinik in Sitten, 9.9.1996
Ein symbolträchtiges Datum – am erfolgte der Spatenstich (Bild), am wurde die Rehabilitationsklinik in Sitten eingeweiht.

In der Folge schränkte sich die Standortwahl auf Delsberg und Sitten ein. Schliesslich setzte sich Sitten durch – allerdings nicht ohne Nebengeräusche innerhalb der Suva. Pierre Boillat, CVP-Regierungsrat des Kantons Jura und Suva-Verwaltungsrat, witterte ein abgekartetes Spiel. Delsberg hatte sogar eine Volksabstimmung durchgeführt, um Land für die Klinik einzuzonen. Jetzt kritisierte Boillat, dass sich der Vorschlag der Direktion auf «vorgefasste Meinungen» stütze.

«Nach diesem Treffen habe ich meinen Kollegen sagen müssen, dass ‹les carottes étaient déjà cuites› [‹das Spiel schon vorbei war›].» Pierre Boillat, CVP-Regierungsrat des Kantons Jura und Suva-Verwaltungsrat, nach einem Besuch der Suva-Direktion in Delsberg,
Portrait Pierre Boillat
Pierre Boillat CVP-Regierungsrat des Kantons Jura und Suva-Verwaltungsrat
Portrait Roland Conus
Roland Conus Zentralsekretär der Gewerkschaft Bau und Industrie und Suva-Verwaltungsrat
«Ich weiss, dass es im Jura und in Delémont schön und die Luft dort sauber ist, aber ich muss feststellen, dass die Romands generell lieber ins Wallis reisen als in den Jura.» Roland Conus verteidigt die Wahl von Sitten,

Was damals den Ausschlag gab, war die unmittelbare Nähe des Regionalspitals in Sitten. In den Achtzigerjahren hatte sich die Rehabilitationsmedizin immer mehr der Akutmedizin angenähert, Bellikon wäre nicht mehr auf der grünen Wiese gebaut worden, argumentierte Dominik Galliker, Direktionspräsident der Suva.

«Was den Standort … betrifft, so würden wir die Klinik heute mit Sicherheit nicht mehr in Bellikon errichten, sondern … in der Nähe eines Akutspitals bauen.» Dominik Galliker, Direktionspräsident der Suva, während der Beratungen über den Standort der Rehabilitationsklinik in der Westschweiz, 2. Juli 1993
Luftaufnahme der Rehabilitationsklinik Sitten, 2006
Luftaufnahme der Rehabilitationsklinik Sitten.

Eröffnet wurde die «Clinique romande de réadaptation» (CRR) am 9. September 1999, symbolträchtig am 9.9.99. Heute ist die Klinik hochspezialisiert und nicht nur mit dem Regionalspital, sondern auch mit der ETH und dem Universitätsspital in Lausanne vernetzt. Und sie hat bereits den ersten Ausbau hinter sich. 2015 wurde ein Erweiterungsbau eröffnet: die Bettenzahl erhöhte sich von 110 auf 145.

So wurde die Rehabilitationsklinik in Sitten gebaut; Amateuraufnahmen dokumentieren die Zeit von 1996 bis 1999.

Mit der Rehabilitationsmedizin positionierte sich die Suva in einem neuen Bereich der Versicherungstätigkeit. Sie tat dies in einer Zeit, als sich auch die gesetzgeberischen Voraussetzungen änderten. 1984 trat das neue Unfallversicherungsgesetz in Kraft – für die Suva mit gravierenden Folgen.

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