Was geschieht mit einem Schwerverletzten, mit einem Invaliden nach einem Unfall? Wiedereingliederung war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts nur ein Randthema. Heute ist sie ein wichtiges Standbein der Suva – sowohl in der Deutsch- als auch in der Westschweiz.
Immer wieder flammten die Diskussionen auf: War es nicht auch eine Aufgabe der Unfallversicherungsanstalt, sich um die Wiedereingliederung der Verunfallten, vor allem der Schwerverletzten und Teilinvaliden, zu kümmern? Es war ein heikles Thema. Konsequent sprach sich der Verwaltungsrat gegen die Errichtung einer eigenen Wiedereingliederungsstätte oder -abteilung aus – auch gegen Vorstösse aus den eigenen Reihen.
1928 forderte Howard Eugster-Züst, SP-Nationalrat und Vizepräsident des Suva-Verwaltungsrates, dass sich die Anstalt um die «Verwertung der verbliebenen Arbeitskraft in schweren Invaliditätsfällen» bemühe – etwa mit der Schaffung einer Fürsorgestelle für Invalide. Dem hielt die Direktion entgegen, dass «das Problem in der Schweiz kein so brennendes» sei; die Arbeitslosigkeit sei bei Teilinvaliden nicht höher als bei Gesunden.
«Es ist für sie [die Halbinvaliden] nicht wohl möglich, auf dem Lande bei bloss halber Leistung oder halber Arbeitszeit zu halbem Lohne angestellt zu werden.» Howard Eugster-Züst zur «Verwertung der verbliebenen Arbeitskraft» von Invaliden, 18. Juli 1928
Vor allem wies die Direktion darauf hin, dass sich die Suva «seit längerer Zeit» für die medizinische Behandlung nach einem schweren Unfall starkmache. Sie schickte die Unfallpatienten «zur Nachkur nach Baden».
Dort stellte die Suva allerdings «Mängel und Unzukömmlichkeiten» fest, beispielsweise werde «das Fehlen einer genügenden Überwachung» als eine «gewisse Aufmunterung zum Trinken» interpretiert. Kurzerhand entschloss sich der Verwaltungsrat, den «Quellenhof» zu kaufen und als Bäderheilstätte einzurichten.
Sehr schnell stellten sich die Heilerfolge ein. 1936 wurde der «Quellenhof» durch eine Gehschule ergänzt. Sie wurde als «Amputiertenschule» bekannt und diente neben der Stumpfbehandlung auch der «Übung der verbleibenden Gelenke» und der «Anlernung im richtigen Gebrauche der Kunstglieder».
1937 wurden sogar «kinomatographische Aufnahmen» von Übungsstunden der Amputierten gemacht, um bei Ärzten für die Schule zu werben.
«Das Haus hat Zentralheizung und Lift. Für den Tagesaufenthalt stehen ein grosser Lese- und Spielraum, eine Bibliothek und Zeitungen der verschiedenen Landesteile, sowie die hellen, breiten Treppenhallen mit bequemen Sesseln zur Verfügung. Radio und Grammophon sorgen für Unterhaltung. Das Essen wird im grossen Speisesaal an weissgedeckten Tischen serviert. Die Patienten müssen mit Rock und Kragen zu Essen erscheinen, wie man sich überhaupt bemüht, die Atmosphäre eines Kurhotels zu wahren.» Hans Büchel in einer Dissertation an der Universität Zürich über den «Quellenhof», 1935
1937 war die Suva einverstanden, den Namen der Bäderheilstätte von «Quellenhof» in «Schiff» zu ändern. Sie entsprach damit dem Wunsch der «A.-G. Grand Hotel Baden» und der Stadt Baden, die beabsichtigten, «Quellenhof» für die touristische «Werbung für ihr Badehotel und für den Fremdenverkehr in Baden überhaupt» zu verwenden.
Schon bald wurde das «Schiff» zu einem Vorzeigeobjekt der Suva, es hatte den Charakter eines Kurhauses mit Hotelbetrieb. In der ganzen Schweiz gab es keine vergleichbare Institution. Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Ansturm auf die Bäderheilstätte so gross, dass sich eine Erweiterung aufdrängte. Diese war in Baden aber aus Platzgründen nicht möglich, deshalb entschloss sich der Suva-Verwaltungsrat, ein neues Nachbehandlungszentrum in Bellikon zu bauen. Dieses wurde 1974 eröffnet, die Heilstätte in Baden blieb noch bis 2000 in Betrieb.
Mit der Rehabilitationsklinik in Bellikon stiess die Suva in eine neue Dimension vor. 1974, als sie das «Nachbehandlungszentrum» eröffnete, erweiterte sie nicht nur ihre Tätigkeit als Versicherer. Auch das Bauprojekt – ein 80-Millionen-Wurf auf der grünen Wiese über dem aargauischen Reusstal – setzte einen imposanten Akzent. Es war das Resultat von Weitsicht und Zielstrebigkeit – aber auch von Irrungen und Wirrungen.
«Bellikon ist nur ca. 10 Minuten von Baden entfernt, liegt an einem sonnigen, ruhigen Hang, ca. 600 m ü.M. und ist aus medizinischer Sicht als idealer Standort für eine Nachbehandlungsstätte zu betrachten.» Karl Obrecht, Verwaltungsratspräsident der Suva, nach dem Kauf der landwirtschaftlichen Liegenschaft in Bellikon, 28. Juni 1963
Es brauchte Hartnäckigkeit und Geduld, bis das Nachbehandlungszentrum stand. Zwölf Jahre dauerte die Planungs- und Bauzeit, vor allem der Kampf um die Baubewilligung kam einem Spiessrutenlauf gleich. Sowohl ein Anwohner – der «Schlossherr von Bellikon», das heisst der neuzeitliche Besitzer des angrenzenden Schlossgutes aus dem 14. Jahrhundert – als auch die Umweltverbände reichten Beschwerden ein. 1965 wurde ein erstes Baugesuch von den Gemeindebehörden zurückgewiesen; ein Jahr später bewilligten sie ein redimensioniertes Projekt, gegen das wiederum Beschwerden eingingen. Diese wurden 1967 von der Kantonsregierung abgewiesen.
Nicht locker liess die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission (ENHK), die auf einer weiteren Verkleinerung bestand. Dies kam für die Suva nicht in Frage, mit nur 180 statt 270 Betten war ein wirtschaftlicher Betrieb nicht möglich. Gelöst wurde der Konflikt erst, als sich die Suva an den Bundesrat wandte. Bei einem Augenschein mit Hans Peter Tschudi lenkte die ENHK am 8. Juli 1968 ein.
«Ich habe alle Achtung vor diesen Herren, aber leider haben sie – bei allem guten Willen – oft einen Zug ins Extreme … das Projekt ist ein ehrlicher Versuch, eine Harmonie zwischen Natur und menschlichen Interessen herzustellen.» Ettore Tenchio, CVP-Nationalrat aus Graubünden und Verwaltungsrat der Suva, zu den Forderungen der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission, 8. September 1967
Schon bald nach der Eröffnung des Zentrums zeichnete sich eine grundlegende Veränderung in der Rehabilitationsmedizin ab. Immer mehr Schädel-Hirnverletzungen – insbesondere nach Verkehrsunfällen – weckten den Bedarf nach einer «Frührehabilitation schon in der postakuten Phase».
«Bei den Schädel-Hirnverletzten … handelt es sich vorwiegend um junge Leute, meistens Motorradfahrer.» Dominik Galliker, Direktionspräsident der Suva, 2. Juli 1993
1984, mit dem Inkrafttreten des neuen Unfallversicherungsgesetzes, wurde das Nachbehandlungszentrum Bellikon in «Rehabilitationsklinik Bellikon» umbenannt. Dabei änderte nicht nur der Name, sondern auch die Philosophie. Innerhalb von zehn Jahren entwickelte sich die Rehabilitation zu einem integrierten Teil in der Behandlungskette des Patienten.
Ausgebaut wurde auch die Prothesenwerkstatt, die 1974 von Baden nach Bellikon umgezogen war. Sie entwickelte sich zu einem High-Tech-Labor mit einem angegliederten Forschungszentrum. Armprothesen und Gehhilfen – beispielsweise die «Funktionelle, instrumentierte Ganganalyse» (FiGA) mit einer «Rückenmaus» – gehörten zu den frühen Entwicklungen.
Was in den Anfangsjahren der Suva noch als ein Ding der Unmöglichkeit schien, ist heute eine Selbstverständlichkeit – die medizinische Rehabilitation und die berufliche Wiedereingliederung sind verknüpft. Zeichen für die Bedeutung der integrierten Rehabilitation ist der jüngste Ausbau der Klinik in Bellikon; zwischen 2013 und 2018 wurden rund 300 Millionen Franken in einen umfassenden Um- und Neubau investiert.
«Die Suva hat die Rehabilitation gepflegt, noch bevor dieser Teil der Medizin wissenschaftlich ausgebaut war … Medizinische Rehabilitation ist die Vorstufe für eine erfolgreiche berufliche Eingliederung.» Hans Hürlimann, Bundesrat, in seiner Rede zur Eröffnung des Nachbehandlungszentrums Bellikon am 28. Juni 1974
«Die Rehabilitationsaufgaben sind ausserordentlich komplex und damit zugegebenermassen sehr teuer; teurer ist nur noch das Fehlen der Rehabilitation oder eine zu späte Rehabilitation.» Rolf Lanz, begründet die Notwendigkeit einer Rehabilitationsklinik in der Westschweiz, 2. Juli 1993
Es war ein kleiner Paukenschlag, als die Suva ankündigte, sie wolle eine zweite Rehabilitationsklinik errichten, und zwar in der Westschweiz. 1991, als der Plan bekannt wurde, gingen «gegen 100 Offerten von Westschweizer Gemeinden» ein, so der damalige Präsident des Suva-Verwaltungsrates, Franz Steinegger.
In der Folge schränkte sich die Standortwahl auf Delsberg und Sitten ein. Schliesslich setzte sich Sitten durch – allerdings nicht ohne Nebengeräusche innerhalb der Suva. Pierre Boillat, CVP-Regierungsrat des Kantons Jura und Suva-Verwaltungsrat, witterte ein abgekartetes Spiel. Delsberg hatte sogar eine Volksabstimmung durchgeführt, um Land für die Klinik einzuzonen. Jetzt kritisierte Boillat, dass sich der Vorschlag der Direktion auf «vorgefasste Meinungen» stütze.
«Nach diesem Treffen habe ich meinen Kollegen sagen müssen, dass ‹les carottes étaient déjà cuites› [‹das Spiel schon vorbei war›].» Pierre Boillat, CVP-Regierungsrat des Kantons Jura und Suva-Verwaltungsrat, nach einem Besuch der Suva-Direktion in Delsberg,
«Ich weiss, dass es im Jura und in Delémont schön und die Luft dort sauber ist, aber ich muss feststellen, dass die Romands generell lieber ins Wallis reisen als in den Jura.» Roland Conus verteidigt die Wahl von Sitten,
Was damals den Ausschlag gab, war die unmittelbare Nähe des Regionalspitals in Sitten. In den Achtzigerjahren hatte sich die Rehabilitationsmedizin immer mehr der Akutmedizin angenähert, Bellikon wäre nicht mehr auf der grünen Wiese gebaut worden, argumentierte Dominik Galliker, Direktionspräsident der Suva.
«Was den Standort … betrifft, so würden wir die Klinik heute mit Sicherheit nicht mehr in Bellikon errichten, sondern … in der Nähe eines Akutspitals bauen.» Dominik Galliker, Direktionspräsident der Suva, während der Beratungen über den Standort der Rehabilitationsklinik in der Westschweiz, 2. Juli 1993
Eröffnet wurde die «Clinique romande de réadaptation» (CRR) am 9. September 1999, symbolträchtig am 9.9.99. Heute ist die Klinik hochspezialisiert und nicht nur mit dem Regionalspital, sondern auch mit der ETH und dem Universitätsspital in Lausanne vernetzt. Und sie hat bereits den ersten Ausbau hinter sich. 2015 wurde ein Erweiterungsbau eröffnet: die Bettenzahl erhöhte sich von 110 auf 145.
Mit der Rehabilitationsmedizin positionierte sich die Suva in einem neuen Bereich der Versicherungstätigkeit. Sie tat dies in einer Zeit, als sich auch die gesetzgeberischen Voraussetzungen änderten. 1984 trat das neue Unfallversicherungsgesetz in Kraft – für die Suva mit gravierenden Folgen.