Strahlenschutz: Der lange Kampf gegen das Tritium
1958 schickte sich die Schweiz an, die Atomkraft zu nutzen. Dies eröffnete ein neues Gefahrenfeld – auch für die Suva. Dabei gingen die Risiken nicht unbedingt von Atomkraftwerken aus. Zifferblätter genügten.
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Als sich der Bund anschickte, eine Expertenkommission zu bestellen, um die Möglichkeiten der friedlichen Nutzung der Atomenergie auszuloten, berief er auch die Suva in das Gremium. Das war 1958. Für die Suva war es gleichermassen der Startschuss, sich mit den Risiken der ionisierenden Strahlen (Radioaktivität) und mit dem Strahlenschutz zu befassen. Noch im gleichen Jahr schaffte sie ein Strahlenmessgerät an, um Anlagen zu kontrollieren, die Radioaktivität erzeugten oder verwendeten. 1959 wurde ein «Fachmann angestellt, der sich ausschließlich mit Fragen des Schutzes gegen ionisierende Strahlen befasst».
In mehreren Schritten wurde der Messplatz in Luzern ausgebaut. 1961 war die Suva in der Lage, auch Beta- und Gamma-Spektrogramme aufzunehmen, 1964 wurde ein eigenes Labor eingerichtet, das nun über eine Reihe von Messapparaten, unter anderem einen Tritium-Monitor, verfügte. 1965 kam ein Flüssigkeitsszintillator dazu, der es ermöglichte, Tritium im Urin zu erkennen.
Strahlende Zifferblätter
Grund für dieses Aufrüsten war die Uhrenindustrie, konkret die Zifferblattindustrie. 1962 hatte die Suva – auf Anordnung des Eidgenössischen Gesundheitsamtes – mit Untersuchungen in den Leuchtfarbensetzereien der Zifferblatthersteller begonnen. Tritium, ein radioaktiver Betastrahler mit einer Halbwertszeit von mehr als 12 Jahren, war von der Industrie für den Leuchteffekt auf Zifferblättern entdeckt worden.
1963 trat die Verordnung über den Strahlenschutz, zu deren Entwurf auch die Suva in der Expertenkommission beigetragen hatte, in Kraft. Aufgrund der neuen Bestimmungen wurden vier Mitarbeiter einer Zifferblattfabrik «von der gefährdenden Tätigkeit ausgeschlossen», wie die Suva vermeldete. Sie warnte vor den neuen Leuchtfarben. Diese seien «nicht so harmlos, wie vorerst angenommen wurde».
Für die Mitarbeiter in der Zifferblattindustrie wurde 1966, als die Suva über den entsprechenden Szintillator verfügte, die regelmässige Kontrolle des Urins eingeführt. Kontrolliert wurden auch die Heimarbeiter.
Damit verschwand das Problem aber nicht – die Leuchtfarbensetzereien blieben ein Sorgenkind. Die höchsten Strahlendosen, die in der Industrie gemessen wurden, stammten aus den Leuchtfarbenwerken. Vereinzelt wurden auch Grenzwertüberschreitungen registriert. Noch in den Achtziger- und Neunzigerjahren war die Suva gezwungen, Massnahmen anzuordnen, weil die Belastungen zu hoch waren. Erst seit 2009 werden keine Tritium-Leuchtfarben mehr verwendet.
Ansonsten beschränkte sich die Arbeit der Suva, die auch Bewilligungsinstanz für den Umgang mit radioaktiven Stoffen und Apparaten war, auf die Kontrolle. Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre dehnte sie ihre technischen Möglichkeiten auf die Messung von Radon und von nichtionisierenden Strahlen wie Mikrowellen, Laser-, Infrarot- und Ultraviolettstrahlen aus.
Dosimeter für gefährdete Personen
1975 sprang die Suva für den Bund ein und übernahm die Auswertung der sogenannten «Dosimeter» – eine Dienstleistung, die zuvor das Eidgenössische Institut für Reaktorforschung in Würenlingen erbracht hatte, diese aber «infolge Arbeitsüberlastung» einstellte. Dosimeter sind Geräte, die Arbeitnehmer in strahlenexponierten Betrieben auf ihrem Körper tragen. Dabei erfolgt eine kontinuierliche Messung der Strahleneinwirkung.
Als die Suva mit den Messungen begann, erfasste sie 1630 Geräte in rund 250 Betrieben. 1984 waren es bereits rund 7000 Personen in 1800 Betrieben. Inzwischen war die Übermittlung und Auswertung der Daten automatisiert. 2015 war die Suva für die Auswertung von rund 15 000 Dosimetern zuständig. Sie ist eine von sieben Dosimetriestellen in der Schweiz, die Auftragsmessungen vornehmen; die Kernkraftwerke kontrollieren ihre Angestellten selber.
In der Schweiz gelten rund 96 000 Arbeitnehmer als strahlenexponiert. Davon arbeiten mehr als zwei Drittel in Gesundheitsberufen, andere in Kernanlagen oder der Industrie.
2016 entschied die Suva, die flächendeckenden Vorsorgeuntersuchungen, die seit 1963 aufgrund der Strahlenschutzverordnung durchgeführt worden waren, einzustellen. Erstens habe es «überhaupt wenige Berufskrankheiten wegen ionisierender Strahlung» gegeben, zweitens seien diese «noch viel seltener durch eine Vorsorgeuntersuchung erkannt» worden.
Wirksam sind heute die Dosimeter, die Belastungen erkennen und ein frühzeitiges Handeln ermöglichen. Aus diesem Grund reagierte die Suva, als sich nach landesweiten Messungen des Bundes herausstellte, dass Radon – ein radioaktives Edelgas, das in der Natur vorkommt – gefährlicher ist als bisher angenommen. 2015 bis 2017 führte sie eine Messkampagne in Wasserversorgungsanlagen durch, um Personen zu identifizieren, die gefährdet sind, und um sie mit Dosimetern auszustatten. Radon ist die zweithäufigste Ursache für Lungenkrebs – nach dem Rauchen.